Aargauer Zeitung, Kultur, 4. Dezember 2017
Theater. Karin Henkel zeigt mit «Beute Frauen Krieg» nach Euripides im Zürcher Schiffbau einen verstörenden Zyklus um Leid und Schuld
Ein Raunen, ein Murmeln. «Alle niedergemetzelt », sagt eine, «einer nach dem anderen.» «Gebt mir meine Kinder wieder », eine andere. Gebeutelte Gestalten laufen im Kreis, ein Kind geht den Steg entlang, der den Zürcher Schiffbau durchmisst, zieht ein Papier-Pferd hinter sich her.
Die Leidenden sind die Frauen von Troja, nur sie haben die Nacht überlebt, in der die Griechen aus dem Pferd krochen und die schlafende Stadt eroberten. Ihr Schicksal fächern Karin Henkel und ihr Inszenierungsteam in «Beute Frauen Krieg» auf, indem sie die moderne Fassung der Euripides-Texte «Die Troerinnen » und «Iphigenie in Aulis» kombinieren. «Sie haben nicht gesiegt, sie haben gemordet», sagt Hekabe, die gefallene Königin. Lena Schwarz gibt diese verzweifelte Mutter, mehr tot als lebendig streicht sie wie ein Schatten umher. Der Ton ist sofort gesetzt: Trauer. Gewalt. Keine Hoffnung, nirgends. Nur immer mehr Details von immer mehr Horror.
Die anderen sind schuld
Mit immer neuen Varianten von Leid und Wahn und Schuld dreht sich dieser Abend im Kreis. Zeigt die Frauen als Beute und Opfer, ihr Leid als Mutter, Ehefrau, Tochter. Zeigt, wie sich die Kriegstreiber in Lügen und sinnlosen Diskussionen verstricken. Und wie sie alle, ausnahmslos alle, nur im anderen den Schuldigen finden. Dafür senken sich zwei Wände hinab, dreiteilen den langen Raum. Drei Szenen werden synchron gezeigt, die sich das Publikum gruppenweise hintereinander anschaut: Das Machtzentrum in der Mitte mit Helenas Schicksal, der Fall von Hekabes Tochter Kassandras auf der einen, der ihrer Schwiegertochter Andromache auf der anderen Seite.
Kassandra, die Seherin, die Priesterin, wurde auf den Stufen des Altars vergewaltigt und wird jetzt Agamemnon als Kriegsbeute gegeben. Von ihr ist nur noch eine Puppe übrig. Mechanisch dreht sich Dagna Litzenberger Vinet auf dem Podest, spielt traumatisch, nahe am Wahnsinn und doch mit klarem Seherinnenblick. Andromache musste der Ermordung ihres Gatten zusehen. Jetzt liegt sie hinter Pappkartons und sagt: «Ich bin nur noch ein Stück Fleisch.» Unbeweglich, ausgehöhlt, innerlich gestorben schaut Carolin Conrad zu, wie auch noch ihr Säugling brutal ermordet wird.
Nur noch ein Sexsymbol
In der Mitte das Machtzentrum, mit einer doppelten Helena, in rosa Lederröckchen und mit blonder Mähne. Sie sei nur ein Sexsymbol, erklären sie im Duett, mit ihr persönlich habe das nichts zu tun. Hekabe schleicht wie ein Schatten durch die Helenaszene, Andromache bringt von der anderen Seite ihr ermordetes Kind, Kate Strong platzt als dritte Helena herein.
Die Gleichzeitigkeit der Szenen ist ein Kraftaufwand, den Technik und Schauspieler beeindruckend meistern. Sie holt den Krieg ganz nah heran, zeigt die Gleichzeitigkeit aller Varianten des Krieges, auch jetzt, in diesem Moment, irgendwo auf der Welt. Der Anfang ist am Schluss, das Ende bricht in den Anfang – es ist egal, weil das Ende dem Anfang entspricht, weil am Anfang und am Ende ein Kind sinnlos geopfert wird.
Die Opferung von Iphigenie, mit der alles begann, wird nach der Pause wieder fürs geeinte Publikum gespielt. «Ich habe sie mit Argumenten getötet in meinem Wahn», erkennt Agamemnon. Er kann auf die simplen Fragen, die Kate Strongs Hetäre ihm hinwirft, nicht antworten. «You are a fake, Agamemnon», sagt sie, «you are the war.»