Dieses lange, graue Leben

Aargauer Zeitung, Kultur, 16. Januar 2017

Karin Henkel macht Anton Tschechows „Onkel Wanja“ am Zürcher Pfauen zu einem Mosaik der Depression.

Siggi Schwientek steht da, hängende Schultern, grosse traurige Augen, Tränensäcke, graue Hosen, graue Haare. Ein Pullover mit Blumen, wenig grün, viel grau, natürlich. Farblos in der Farbigkeit. In einer Hand schlenkert der Revolver, in der anderen die Wodkaflasche. Zweimal Rettung, zweimal Untergang.

Anfang und Ende

„Onkel Wanja“ von Karin Henkel am Pfauen des Zürcher Schauspielhauses beginnt mit dem Ende. Und doch nicht, denn Wanja hat einen Schussversuch hinter sich, der ihm nicht gelingt. Doch er wollte die Waffe gegen sich selbst richten nicht gegen den Professor, sich umbringen, endlich. Noch vielleicht 13 Jahre zu leben, das ist ihm viel zu lang. „Man muss nun mal leben, auch wenn man es gar nicht will“, sagt Sonja zu ihm, am Anfang statt am Ende. Und damit ist der Grundtenor gesetzt.

Der Ton für die Melancholie, die Düsternis, die Lebensmüdigkeit. Die Bühne von Stéphane Laimé in Schwarz und Weiss – nein: in Grau und Weiss, denn hier sind alle und alles grau. Auf der Wand, einer Videowand, wie es scheint, sieht man eine hypnotische Fahrt in den Tunnel, sieht Kreuz und Bett.

„Schlafen und trinken, das ist so langweilig.“ Sagt Wanja, der sich sein Leben lang abgerackert hat für diesen scheinbar tollen Professor und der jetzt auf ein verpfuschtes Leben zurückschaut, weil der Schwager nur ein Scharlatan, ein Abschreiber war. Mit dessen Rückkehr von der Stadt aufs Landgut wird alles noch schlimmer, denn er führt sich auf wie ein Pascha – und will doch nur das Gut zu Geld machen, nimmt keine Rücksicht auf Wanja und seine Tochter Sonja, und merkt auch nicht, dass sich alle in seine junge Frau Jelena verliebt haben.

Ein „Mosaik der Depression“ hatte das Schauspielhaus angekündigt. Nur ein Tölpel wie der Gutsbesitzer Telegin von Alexander Maria Schmidt kann da noch Hoffnung sehen. Carolin Conrads Sonja, schwarz umrandete Augen, schwerer Gang, zeigt die Verzweiflung über die eigene Hässlichkeit in jeder Geste. Schwienteks Wanja bleibt ganz trostlos, ganz labil, das kleine Männchen, auf dem sie alle herumtrampeln. Nur Lena Schwarz´ Jelena macht auch in Grau noch gute Figur, lässt es glitzern und figurbetont an sich herunterfallen. Und Nikola Weisses bodenständige Maria stapft sogar noch mit Würde zum Medikamentenschrank.

Stringentes Spiel

Marcus Scheumanns Arzt Astrow schwankt durch Suff und Leben und verknotet sich verzweifelt so mit Jelena, dass sie beinahe in seinem Hemd erstickt. Viele solcher feinen Szenen hat Karin Henkel mit ihren Schauspielern erdacht, Solo- oder Duostücke gedrechselt, in denen sie ihrer Schauspielkunst freien Lauf lassen können.

Stringent ist das alles, in seiner depressiven Untätigkeit, seinem Aneinandervorbeireden, seinen Versuchen, aus der Lethargie zu krabbeln. Und in seinem triefenden Zuviel. Das ist wörtlich zu nehmen, entpuppt sich doch die Videowand als tropfendes, rinnendes Etwas, als Eiswand, die sich gehen lässt, sich auflöst, sich aufgibt. Sie waten tief im Wasser, im Wodka, im Regen, das ihnen ohnehin bis zum Hals steht.

Doch merkwürdig: Das Zuviel ist ein Zuviel auch beim Zuschauen, der Schluss zu Beginn nimmt Spannung, lässt den Untergang zu einem ewig sich drehenden Reigen werden, dem manchmal kräftig die Puste ausgeht. Und als er dann ausser Atem am Ende ankommt, lässt Karin Henkel Sonjas Wunsch nach einem anderen Leben, einem richtigen Leben wahr werden. Sonja lässt eine selbstaufrüttelnde Carpe-diem-Rede vom Stapel, in der sie das Glück des Augenblicks, der vielen kleinen schönen Momente (ein Kind, ein Baum, die Morgenröte) beschwört, „bevor wir nutzlos im Dunkeln verschwinden“. Da gelingt es selbst einer Carolin Conrad nicht, den Kitsch zu bannen. Und der Abend bekommt, trotz vieler hell strahlender Einzelszenen, selbst eine graue Färbung.