Im Oval der Mächtigen

Aargauer Zeitung, Kultur, 15. Januar 2018

Theater Rimini Protokoll erklärt in «Weltzustand Davos» die WEF-Abläufe und macht Zuschauer zu Kongressteilnehmern

Meine Unterlagen weisen mich als Igor Tulchinsky aus, CEO der WorldQuant LLC. Neben mir sitzt Matthias Müller, CEO der Volkswagen AG. Auch Investor George Soros ist im Theaterrund, ebenso der Chef der Ölfirma Aramco aus Saudi-Arabien, Umsatz: 510 Milliarden Dollar. Wir, das sind die Chefs von 14 Millionen Mitarbeitern. Wir, das sind die Theaterbesucher von «Weltzustand Davos» im Zürcher Schiffbau. Wir, das sind die Teilnehmer des 48. World Economic Forum, das vom 23. bis 26. Januar 2018 in Davos stattfinden wird. Im Zürcher Schiffbau machen Helgard Haug und Stefan Kaegi vom Theaterkollektiv Rimini Protokoll die Zuschauer zu Kongressteilnehmern und erklären ihnen mithilfe von fünf Experten, wie das Treffen der Mächtigen abläuft.

Die Theaterbesucher sitzen um ein Oval in der Mitte. Per Rundumfilm an der Bühnenrückwand erleben sie den Helikopterflug von Dübendorf nach Davos. Mit Schneeschaufeln legen die fünf unterm (Theater-)Schnee den Stadtplan von Davos frei: Hier der Bahnhof, da das Krankenhaus, da das Hotel Pöstli für den Schweizer Bundesrat. Sie erzählen, dass Geschäfte leergeräumt und so teuer vermietet werden, dass sich die Inhaber für den Rest des Jahres über Wasser halten können. Und sie rechnen vor, dass ein WEF-Aufenthalt pro Person mindestens 90 000 Dollar kostet.

Wo Donald Trump absteigen wird, der sich überraschend angesagt hat, kann der ehemalige Landammann Hans Peter Michel nicht sagen, das ist geheim. Dafür bekennt er, in einem «Kuhhandel» mit WEFGründer Klaus Schwab eine Erweiterung des Kongresshauses durchgesetzt zu haben. Also noch mehr Teilnehmer, noch mehr Gespräche, noch mehr Namen. Und noch mehr Programm. 100 Sessions laufen gleichzeitig, erzählt Sofia Sharkova begeistert. Die 31-Jährige ist Vizepräsidentin des Zürcher Verbandes «Global Shapers», so etwas wie der Jugendorganisation des WEF. Glückstrahlend führt sie den chinesischen Alibaba-Erfinder John Ma zum «Backstage-Meeting» ab.

In Davos wird geredet, geredet, geredet. Im Filmzeitraffer eine Zeitreise von den Anfängen 1971 bis heute, Ausschnitte aus der Eröffnungsrede 2017 von Chinas Präsident Xi Jinping oder der von US-Präsident Bill Clinton 2000. Dazwischen wird vorgespult – man hat nicht das Gefühl, Wesentliches zu verpassen. Der Nachbar als Matthias Müller von VW wird angegangen wegen der Dieselaffäre – auch das nicht überraschend.

Hockey bringt auch keine Klärung

Sein Ankläger ist Otto Brändli. Der 76- Jährige ist Tuberkulosespezialist und war im «Zauberberg»-Ort Davos Chefarzt einer Höhenklinik. So überraschungslos und ermüdend der WEF-Strang des Abends, so beeindruckend die Fakten, die Brändli präsentiert: Bis heute ist Tuberkulose die häufigste ansteckende Krankheit, die zum Tode führt, 600 000 Menschen leiden an einer antibiotikaresistenten Form – Tendenz steigend. Seit 1968 aber kam nur ein neues Mittel auf den Markt.

Einer von Brändlis Patienten ist Ganga Jey Aratnam, Soziologe an der Uni Basel. Er hat sich bei Recherchen zum Rohstoffmulti Glencore in Sambia mit Tuberkulose angesteckt. Cécile Molinier arbeitet seit 35 Jahren für die UNO, 20 Jahre für das Entwicklungshilfeprogramm UNDP. Die resolute Französin zeigt den anderen Weg: Nicht Treffen der Mächtigen, die Geschäfte hinter geschlossenen Türen abwickeln und mit 12 Prozent Frauen und 6 Afrika- Vertretern so schlecht die Welt repräsentieren. Dafür multinationale Organisationen wie die UNO, die sich im Schneckentempo durch die Mühen der Ebene bewegen. Werden es die Staaten richten oder die Konzerne? Das Publikum ist aufseiten der Staaten. Das finale Hockeyspiel, Lokalsport in Davos, das die Experten austragen, bringt auch keine Klärung.