Manu steigt aufs Dach

NZZ am Sonntag, Kultur, 25. August 2019

Roman. Wie der mögliche Selbstmord einer Frau das Leben anderer Menschen verändert: Simone Lapperts «Der Sprung» ist ein ambitioniertes Buch, das am Schluss in die Kitschfalle tappt 

Von Valeria Heintges «Die Verrückten sind immer die anderen, oder?», fragt Finn rhetorisch. Seine Freundin Manu sei verrückt, hat ihm der Ladenbesitzer gerade gesagt. Manu steht auf dem Dach eines Hauses, vieles deutet darauf hin, dass sie sich herunterstürzen will. Unter ihr hat sich ein Menschenauflauf gebildet, Gaffer sitzen auf Stühlen oder stürmen den kleinen Lebensmittelladen, um sich für die nächsten Stunden einzudecken. Wer ist da also verrückt – Manu, die Ziegel um Ziegel vom Dach herunterwirft? Oder all die Menschen, die nichts Besseres zu tun haben, als ihr beim möglichen Sterben zuzuschauen? 

In Simone Lapperts Roman «Der Sprung» wird Manus Tun zum Katalysator, der das Geschehen ins Rollen und den langweilig-zähen Alltag der anderen in Bewegung bringt. In dem Moment, in dem sie aufs Dach steigt, bekommt das Leben der anderen einen Sprung. Die monströse Tat, die scheinbar bevorsteht, ihre Entscheidung zwischen Leben und Tod, zwischen Stehenbleiben und Fallen, lässt keinen gleichgültig, zwingt alle dazu, innezuhalten und sich ihren Lebenslügen, ihren Dämonen zu stellen. 

Finn etwa, Manus Freund, merkt, wie wenig er weiss von der Frau, die ihn so fasziniert mit ihrem starken Willen und ihrer unbedingt vorgetragenen Einstellung, dass man auch einem geliebten Menschen nichts von seiner Vergangenheit erzählen muss. Bald schon sitzt Finn untätig auf dem Platz vor dem Haus, unfähig, seiner Freundin zu helfen. Um ihn herum ein beinahe Volksfest zu nennendes Spektakel, so will es Lappert. Die Polizei ist mit grosser Mannschaft in voller Montur angetreten, die Feuerwehr sperrt das Gelände ab, die Sanität stellt ein Luftkissen auf. Und die Passanten füllen erst Roswithas Café und bringen dann dem kleinen Lebensmittelladen lange nicht mehr gesehene Verkaufszahlen.

Normales verrutscht 

Wer ist verrückt?, fragt die Autorin. Oft auch die, denen man es kaum anmerkt. Ist etwa Edna verrückt, die alte Dame, die so lange darauf warten musste, selbst einen Zug zu führen, und die dann zweimal kurz hintereinander vor einem Selbstmordwilligen nicht bremsen kann? Ist Maren verrückt, die sich viel zu lange von ihrem Mann sagen lässt, wie sie zu leben hat, bevor sie Konsequenzen zieht? Oder Winnie, die der Sündenbock der Schulklasse ist, nur weil sie abweicht von der Norm und keine Lust hat zu hungern? Oder Henry, der obdachlos ist, sich aber seine Würde bewahrt hat und es schafft, mit kleinen, feinen, scharf gezirkelten Sätzen seine Mitmenschen zu verunsichern? Auch er hat den Hebel gefunden, der das scheinbar so normale Leben der anderen verrutschen lässt; seine Fragen verunsichern nachhaltig. Und kosten doch nur zwei Euro das Stück. 

Simone Lappert hat schon in ihrem Erstling «Wurfschatten» im – mittlerweile eingestellten – Metrolit-Verlag das Leiden einer jungen Frau an der Welt durchbuchstabiert. In «Der Sprung», der jetzt bei Diogenes erscheint, gelingen der 34-jährigen Autorin wieder berührende Figuren, bewegende Szenen, Sätze mit den rechten Worten zur rechten Zeit. Und sie spinnt im Hintergrund ein Beziehungsnetz, das sich an manchen Stellen wunderbar durchwirkt. Doch will sie zu viel: Will die Frau auf dem Dach aus zehn Blickwinkeln spiegeln und verheddert sich dabei in dem Wust von Personen, die jede ihre eigene Geschichte bekommen muss. 

Manche geraten da blass, manche unglaubwürdig – etwa Manu selbst –, manche sind schlicht überflüssig. Manche tauchen nur zweimal auf, einzig mit der Funktion, das Geschehen voranzubringen. Das hätte sich eleganter lösen lassen. Andere werden auf Biegen und Brechen zur Veränderung gezwungen, etwa Winnie, die sich plötzlich mit ihrer ärgsten Widersacherin verbündet, oder der Hutmacher Egon, der im Alter plötzlich vor einer grossen Karriere steht. Das könnte märchenhaft sein, kippt aber vor dem spürbaren Wunsch, realistisch erzählen zu wollen, ins Kitschige. Die zuweilen sentenzenhafte Sprache und einige Ungenauigkeiten im Erzählen bessern den Befund nicht. 

Das Schauplatz-Problem 

Ärgerlich ist ausserdem, dass der Roman merkwürdig losgelöst im Raum schwebt. Angesiedelt im – fiktiven – deutschen Schwarzwaldort Thalbach, bleibt der Schwarzwald blass. Mit Wörtern wie Sanität, Blache oder eindunkeln verirren sich eindeutige Helvetismen in die Sprache, und auf den Tischen steht die schweizweit typische, aber in Deutschland unübliche Streuwürze. Warum wird der Roman einer Aargauerin in einem Schweizer Verlag mit einer Schweizer Lektorin um den Preis eines glaubwürdigen Settings ins Nachbarland verlegt? 

Nötig ist das nicht, wie die Romane «Mittagsstunde» von Dörte Hansen oder «Die Liebe im Ernstfall» von Daniela Krien, wie Lappert im Diogenes-Verlag, beweisen. Die eine verortet ihr Geschehen eindeutig in einem norddeutschen Dorf, die andere schildert fünf Frauen, die in einem klar definierten Leipzig leben. Beide haben die Bestsellerlisten gestürmt, weil sie, mit den Füssen fest auf dem Boden, global gültige und leicht übertragbare Geschichten erzählen. Warum sollte das mit einem Schweizer Schauplatz nicht ebenfalls möglich sein? 

Simone Lappert: Der Sprung. Diogenes 2019, 332 S., Fr. 33.–, E-Book 24.–.