Ich gehe, also sehe ich

Bücherbeilage der NZZ am Sonntag, 30. Juni 2019

Unzählige Bücher erzählen von Wandererlebnissen. Gewandert wird überall und immer: auf fremden Kontinenten, in Städten, in der Nacht. Herausragend ist das Buch «Wanderlust» von Rebecca Solnit. Es zeigt: Gehen ist ein Mittel zur Selbsterkenntnis. Aber es ist gefährdet. 

Achill Moser läuft durch die ganze Welt: entlang der ehemaligen innerdeutschen Grenze, auf der Seidenstrasse und durch den Mittleren Westen der USA. Oft besucht er die Schauplätze seiner Lieblingslektüren: Kastilien und die Mancha von Cervantes, das Marokko des Afrikaforschers Gerhard Rohlfs. Oder er folgt Gustave Flauberts Spuren den Nil entlang von Kairo bis Luxor. Doch lernt Moser die beste Begründung für das Laufen schon als Afrikanistikstudent, als er mit den Turkana im Norden Kenyas lebt. Nach einem langen Marsch durch die Wüste warten die Männer eine gewisse Zeit vor ihrem Ziel. Warum sie das täten, fragt Moser. Sie warten auf ihre Seele, ist die Antwort. Denn: «Nur zu Fuss hält die Seele Schritt.» 

Reiseberichte, oft nur wenig über das eigene Erleben herausgehend, gibt es wie Sand am Meer über alle nur erdenklichen Regionen der Erde. Da könnte man fast den Eindruck bekommen, Wandern sei heutzutage grenzenlos und überall möglich. Doch ist die Geschichte des Gehens auch eine Geschichte von Regeln und deren Überschreitungen, bis heute, wie neue Bücher zeigen. «Es war die erschütterndste Entdeckung meines Lebens, dass ich kein wirkliches Recht auf Leben, Freiheit und Glück draussen im Freien besass, dass die Welt voller Fremder war, die mich aus keinem anderen Grund als meines Geschlechts wegen zu hassen schienen», schreibt Rebecca Solnit in «Wanderlust». 

Die Amerikanerin Solnit erfand mit ihrem Essay «Wenn Männer mir die Welt erklären» den Begriff des mansplaining und hat sich seither einen Namen als scharfdenkende Essayistin und Feministin gemacht. Auch die afroamerikanische Autorin Aminatta Forna kommt in ihrem Essay «Power Walking» nach langen, bitteren Erfahrungen als gehende, dunkelhäutige Frau in London, New York und dem sierra-leonischen Freetown zum Ergebnis: «Nobody tells young girls that men own the power of the gaze», niemand erklärt jungen Mädchen, dass Männer die Macht des Blicks haben. 

Noch immer gibt es Gegenden, die man allein nicht betreten sollte – als Frau sowieso nicht. Viele Länder schreiben Frauen vor, wie sie sich zu kleiden haben, wenn sie vor die Türe gehen. Auch in Europa war es Frauen lange verboten, sich in bestimmten Gebieten zu Fuss zu bewegen, es galt als unschicklich, aber auch als gefährlich. Wer aufgegriffen wurde, wurde der Prostitution bezichtigt und riskierte harte Verhöre und Strafen. Noch heute gibt es Grenzen etwa zwischen befeindeten Staaten, die ein Passieren nur unter grössten Strapazen erlauben – ein Aspekt, der in vielen Büchern übers Gehen zu kurz kommt. 

Ein leichtfüssiger Marathonlauf 

Man muss also nur kurz über die scheinbar simpelste Sache der Welt nachdenken, um zu bemerken, dass sie so simpel nicht ist. Im Gegenteil: «Es ist die offensichtlichste und undurchsichtigste Sache der Welt, dieses Gehen, das so leichtfüssig in Religion, Philosophie, Landschaft, Stadtpolitik, Anatomie, Allegorie und Herzschmerz eingeht», schreibt Rebecca Solnit. Ihr Buch liefert den Marathonlauf der Wanderliteratur; so umfassend, so alle Aspekte berücksichtigend ist ihr Werk, das im amerikanischen Original – unter identischem Titel – bereits 2001 erschien, aber erst jetzt auf Deutsch im Verlag Matthes & Seitz herauskommt. 

Solnit beschäftigt sich mit Aspekten der Philosophie, der Anatomie, Anthropologie, Architektur, der politischen Geschichte, der Kultur- und Kunstgeschichte und dem Stellenwert des Gehens heute. Sie untersucht dabei auch ausführlich, wie das Spazieren im Garten sich wandelte zum Wandern in der Natur und schliesslich zum Erklimmen der Berge, vor allem der Alpen. Kulminierend im goldenen Zeitalter des Bergsteigens zwischen 1854 und 1865, in dem rund die Hälfte der Erstbesteigungen in den Alpen von «betuchten britischen Amateuren zusammen mit lokalen Bergführern» unternommen wurde. Doch blieben die Extremkletterer dem Wesen der Berge letztlich fern, schreibt Solnit. «Die wesentliche Natur der Dinge» kenne kein Ziel, sondern drehe sich im Kreis, «so wie die Wanderung». 

In jedem ihrer behandelten Gebiete ist Rebecca Solnit sattelfest, formuliert brillant und analysiert tiefschürfend. Es ist unmöglich, auf alle Aspekte einzugehen, daher seien noch zwei herausgegriffen: einer vom Anfang, einer vom scheinbaren Ende der Geschichte des menschlichen Gehens. Der Anfang: Es ist erschreckend, wie sehr sich auch die Anthropologie als Gebiet entpuppt, in dem frauenfeindliche Thesen den Blick auf überzeugendere Erklärungen verstellt haben. Nein, zeigt Solnit mit der amerikanischen Neuroanthropologin Dean Falk und dem englischen Entwicklungsbiologen Peter Wheeler, der Mensch erhob sich nicht vor vier Millionen Jahren auf seine Hinterbeine und begann zu gehen, weil der Mann so schneller jagen und seine Beute der daheimgebliebenen Frau und den Kindern bringen konnte. Vielmehr hängt es wohl damit zusammen, dass der Mensch in aufrechter Haltung der Sonne viel weniger Angriffsfläche bietet. Stehend konnte er die Hitze besser ertragen, die Wälder verlassen und längere Strecken im offenen Land zurücklegen. Das Gehirn konnte wachsen, und die Hände waren frei und entwickelten sich zu immer feineren und sensibleren Werkzeugen. 

Steht das Aufrichten am Anfang der Geschichte des Gehens, dann markieren Laufbänder in Fitnessstudios deren Ende. Nach langen Überlegungen zum Laufen gelangt Solnit zu der Einsicht, dass Gehen in vielerlei Hinsicht eine Befreiung war, ein Zeichen von Selbstbestimmung, Müssiggang und ziellosem Umherschweifen in durchgetakteten Zeiten. «Die Welt zu erkunden, ist eine der besten Arten, den Geist zu erkunden; und Gehen bewegt sich durch beide Terrains», schreibt Solnit. Doch heutzutage sei das Gehen gefährdet: Wer Zeit spart und damit beschäftigt ist, sich selbst zu optimieren, schlendert nicht mehr herum. In den USA wurden viele Städte autooptimiert gebaut – ohne Trottoirs und Fussgängerübergänge über vielspurige Hauptstrassen. Nicht nur in Autos werden Menschen «wie Schachfiguren» passiv hin- und herbewegt, auch in Zügen, Flugzeugen, in Trams und Bussen. Wandern findet vor allem in der Freizeit statt, Muskeln sind nicht mehr Zeichen harter Arbeit, sondern von in der Freizeit geleisteter Fitness. 

«Dass Muskeln zu Statussymbolen geworden sind, bedeutet, dass die meisten Jobs nicht mehr auf körperlicher Anstrengung beruhen: Wie die Bräune stehen sie für eine Ästhetik des Obsoleten», schreibt Solnit. Aber um Bräune und Muskeln zu bekommen, muss man das Haus nicht mehr zwingend verlassen: «Das Fitnessstudio ist der Innenraum, der das Verschwinden des Draussen kompensiert, eine Notlösung für die Erosion der Körper. » Das Laufband sei dabei «das perverseste aller Geräte», «eine Folgeerscheinung der Vorstadt und der Autostadt: ein Gerät, um nirgendwohin zu gehen, an Orten, wo es nirgendwo hinzugehen gibt – oder nicht den Wunsch danach, irgendwohin zu gehen.» Der Raum, «als Landschaft, Terrain, Spektakel, Erfahrung, ist verschwunden». 

Nur wer läuft, erfährt eine Stadt 

Dabei ist das Gehen wie keine andere Fortbewegungsart geeignet, uns einen Raum physisch erfahren zu lassen und Orientierung zu verschaffen. Man muss nicht durch den Dschungel wandern, um Unbekanntes zu entdecken. Es reicht, einmal links zu laufen, wo alle anderen nach rechts gehen. Oder dort zu laufen, wo alle anderen Auto fahren oder den öffentlichen Verkehr nutzen. Wer etwa Paris oder Berlin nur mit Metro oder U-Bahn erkundet, bekommt kein Gefühl für die Stadt. Wie Flecken schweben die besuchten Orte im Raum. Erst wenn man läuft, den Asphalt unter die Füsse nimmt, verbinden sie sich zu einem Ganzen, zu «Paris» oder zu «Berlin». 

Diese Erfahrung hat auch Lauren Elkin gemacht, als die Amerikanerin ein Semester in Paris studierte und beschloss, hier zu leben. Heute, viele Jahre später, hat sie auch einen französischen Pass und hat das Buch «Flâneuse» geschrieben. Untertitel: «Frauen erobern die Stadt – in Paris, New York, Tokio, Venedig und London». Es sind Stationen, die Elkin selbst bereist hat: Sie folgt der Künstlerin Sophie Calle durch Venedig, geht mit der Autorin Virginia Woolf durch London, mit der Filmemacherin Agnès Varda und der Autorin George Sand durch Paris. In ihren historischen Abrissen kommt sie zum selben Schluss wie Solnit (deren Buch früher erschien, das Elkin aber merkwürdigerweise nicht erwähnt): Nur zögerlich gestehen die Männer den Frauen einen ehrenvollen Platz auf der Strasse zu. Frauen waren die Beobachteten, hätten aber nicht Beobachtende sein dürfen, wenn sie nicht ihren Ruf riskieren wollten. 

Eindrücklich das Beispiel von George Sand, die sich Hosen anzog, um in der Masse unterzugehen und nicht mehr als Frau herauszuragen. Deutlich macht Elkin, dass Flanieren ein Sehen einschliesst, ein Über-die-Fassaden-Gleiten, ein Sich-in-Details- Verlieren. Aber auch ein Wahrnehmen des Unschönen, des Leids. Virginia Woolf etwa sah in London unzählige Leben, die nicht erzählt wurden. Die «Flâneuse» schaut nicht besitzergreifend, schreibt Elkin, sondern fühlt sich zugehörig, will sich das Gesehene zu eigen machen. Den Akt «Ich werde angesehen, aber ich sehe auch selbst» bezeichnet sie mit Agnès Varda als feministischen Akt. 

Ausschweifend, dann aber wieder mit Sinn für das Detail schildert Elkin die gehende Frau, zwischen «unbeschwerter Flâneuse und Objekt der Männlichkeit» und «den Myriaden von Möglichkeiten dazwischen». Ein faszinierendes Werk, doch mit fortschreitender Lektüre auch mit eklatanten Leerstellen. Warum wählt sie so «ausgelatschte », so bekannte Städte? Warum nicht überraschen mit Warschau oder Budapest, mit Moskau oder Lwiw/Lemberg? Hier ist ihr Solnit voraus: Sie beendet ihr Werk mit einem Gang durch Las Vegas. Ein autofreundlicherer Ort ist nicht mehr denkbar, könnte man meinen. Doch überraschend zeigt sich, dass diese am schnellsten wachsende Stadt der USA trotz achtspuriger Fahrbahn beinahe im Stau kollabierte und sich deshalb «in einen brandneuen Vorposten des Fussgängertums verwandelt» hat, wie Solnit bemerkt. 

Wer läuft, erlebt Überraschungen, erarbeitet sich Perspektiven, die eine Weltsicht verändern können. Dafür muss man nicht Kontinente wechseln und Langstreckenflüge bewältigen. Man kann auch einfach zu unüblichen Zeiten gehen, wie Chris Yates. Der englische Journalist, der sich mit Büchern und Radiosendungen über das Angeln einen Namen gemacht hat, läuft, wenn andere schlafen. Im schmalen Bändchen «Nachtwandern. Eine Reise in die Natur» beschreibt er eine Wanderung von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang und einige Stunden darüber hinaus. 

Nachtwandern! 

Schon als Bub begann Yates, mit seinem Vater in der Nacht zu laufen, und fand Gefallen daran, «wie die wohlgeordnete Landschaft im abnehmenden Licht wilder und geheimnisvoller» wird, wie sie quasi ein anderes Leben lebt. Yates läuft durch seine Heimat, beschreibt akribisch seinen Weg und seine Erlebnisse. Seine Augen haben sich an die Dunkelheit gewöhnt, sicher läuft er ohne Taschenlampe durch die Dunkelheit, über Felder, durch Wälder, hügelauf und hügelab. Immer wieder beklagt er, dass viele Tierarten in den letzten Jahren selten geworden seien – man mag es fast nicht glauben, so oft begegnen ihm Dachse, Rehe, Eulen, Käuze. Doch bleibt für den Leser der Erkenntniswert unterm Strich gering, weil Yates zu sehr an seinen Erlebnissen klebt und nicht darüber hinaus zu grösseren Einsichten gelangt, die auch die Lektüre bereichern würden; andere Autoren als Referenzen kommen nicht vor. Da wäre es besser, man ginge selbst wieder einmal in die Nacht hinaus – auch wenn die Erinnerung an die Nachtwanderung in der Jugendfreizeit samt umgeknicktem Fuss noch sehr lebhaft ist. 

Bücher über das Gehen

Rebecca Solnit: Wanderlust. Eine Geschichte des Gehens. Übersetzt von Daniel Fastner. Matthes & Seitz 2019. 384 S., um Fr. 40.–.
Lauren Elkin: Flâneuse. Frauen erobern die Stadt – in Paris, New York, Tokio, Venedig und London. Übersetzt von Cornelia Röser. Btb 2018. 390 S., um Fr. 33.–, E-Book 23.–.
Chris Yates: Nachtwandern. Übersetzt von Frank Sievers. Insel 2019. 152 S., um Fr. 28.–, E-Book 18.–.
Achill Moser: Zu Fuss hält die Seele Schritt. Gehen als Lebenskunst und Abenteuer. dtv 2018. 264 S., um Fr. 18.–, E-Book 14.–.
Erwähnt auch: Aminatta Forna: Power Walking. In Literary Hub: https://lithub.com/power-walking