Bücherbeilage der NZZ am Sonntag, 29. September 2020
Überschwemmungen, Bergstürze, Lawinen: Der Kampf gegen die Gefahren der Natur kann auch politische Gräben schliessen. Das Bändigen der Elementarkräfte hat moderne Gesellschaften und Nationen geprägt, besonders auch die Schweiz.
Es ist das Jahr 1932. Der Glarner Hotelier und Metzger Fritz Heer wendet sich an die Behörden und bittet um Unterstützung. Zwei Sommer lang schon bleiben die Touristen aus, sein Betrieb in Linthal ist beinahe ruiniert. Das Hotel «Rabe» befindet sich in einem Katastrophengebiet, seit an den Mauern der Lawinenverbauung am Kilchenstock Risse entdeckt wurden. Experten gehen davon aus, dass der Berg in nächster Zeit ins Tal rutschen könnte und das Dorf nicht ausreichend gesichert wäre. Seit den Bergstürzen auf Goldau 1806 mit 457 Toten und Elm 1881 mit 114 Opfern weiss jeder, dass das fatal wäre.
Seit sich die Meldung verbreitet hat, bleiben die Hotelbetten leer, und im Dorf tummeln sich Experten, Journalisten und Katastrophentouristen. Immer wieder werden die Linthaler aufgefordert, ihre Häuser zu räumen und bei Freunden oder in Notbaracken zu übernachten. Doch der Berg stürzt nicht, bis heute nicht. Nur langsam normalisiert sich nach zwei Jahren Ausnahmezustand das Leben im Dorf. Hotelier Fritz Heer bekommt eine Entschädigung von 2500 Franken, die seine Ausfälle nicht annähernd deckt. Die Naturkatastrophe am Kilchenstock blieb aus. Aber die eigentliche Vorsorge hatte durchaus katastrophale Züge angenommen.
Es ist das Jahr 1932. Der Glarner Hotelier und Metzger Fritz Heer wendet sich an die Behörden und bittet um Unterstützung. Zwei Sommer lang schon bleiben die Touristen aus, sein Betrieb in Linthal ist beinahe ruiniert. Das Hotel «Rabe» befindet sich in einem Katastrophengebiet, seit an den Mauern der Lawinenverbauung am Kilchenstock Risse entdeckt wurden. Experten gehen davon aus, dass der Berg in nächster Zeit ins Tal rutschen könnte und das Dorf nicht ausreichend gesichert wäre. Seit den Bergstürzen auf Goldau 1806 mit 457 Toten und Elm 1881 mit 114 Opfern weiss jeder, dass das fatal wäre.
Schweiz muss sich mit Naturgefahren auseinandersetzen
Aufgrund ihrer Topografie ist die Schweiz mehr als andere Länder gezwungen, sich mit den Gefahren der Natur auseinanderzusetzen. Zu viele Flüsse, die über die Ufer treten, zu viele Berge, die ins Tal rutschen und auf denen sich Lawinen bilden können. Dazu Sturm und Hagel, Feuer und Erdbeben. «Wer diesen Raum besiedeln und kultivieren will, muss die Natur so gestalten, dass sie lebenswert ist», sagt Nicolai Hannig. Der Historiker an der Ludwig-Maximilians-Universität in München hat untersucht, wie die Idee der Vorsorge vor Naturkatastrophen moderne Gesellschaften geprägt hat.
Vorwiegend betrachtet Hannig Deutschland und die Schweiz, mit Ausflügen nach Österreich und in die ganze Welt. Den Schwerpunkt Schweiz begründet er auch mit der Tatsache, dass das Thema auf die Politik des Landes Einfluss gehabt habe: Der Kampf gegen Katastrophen einte die Bevölkerung, führte aber zu Kompetenzgerangel zwischen Kantonen und Bund, die im Umgang mit der Natur ihre Zuständigkeiten voneinander abgrenzen.
Der Münchner Historiker unterteilt drei Zeitfenster: Im 19. Jahrhundert habe man vor allem versucht, mit massiven Eingriffen in die Natur Gefahren zu verhindern. Um 1900 sei man dazu übergegangen, Gefahren zu berechnen. Und im 20. Jahrhundert arbeitete man daran, mit verstärktem Natur- und Katastrophenschutz die Gefahren zu mildern.
Linthkorrektur und Rheinbegradigung
Der Ausbruch des Vulkans Leki 1783 auf Island lässt weltweit die Temperaturen stürzen; die Niederschläge steigen und führen mittelfristig zu starken Überschwemmungen. Gleichzeitig will sich der Staat in Preussen und den Rheinbundstaaten, aber auch in der Schweiz als Souverän und Schutzmacht etablieren. Da kommen Projekte wie die Rheinbegradigung oder die Linthkorrektur wie gerufen. «Grössere Wasserbauprojekte, die die Kantone im Namen des Katastrophenschutzes, der Landgewinnung und Verbesserung der Schifffahrt initiieren, sorgen dafür, dass sich die zerstrittenen eidgenössischen Stände annähern», schreibt Hannig.
Starke Persönlichkeiten wie der Schweizer Hans Conrad Escher treiben die «Rektifikationen der Flüsse», wie das damals hiess, massgeblich voran. Eschers Name ist untrennbar mit der Linthkorrektur verbunden, deren Vermarkter und Bauleiter er war und die Escher den Zunamen «von der Linth» einbrachte.
Er managt die Gefahren- und Sicherheitspolitik und beherrscht die Regeln des Marketings. Immer wieder überzeugt Escher die Politik, viel Geld zu investieren. Dafür wirbt er auf allen Kanälen, sogar mit Artikeln in Kinderzeitschriften. Zwar steht er nicht selbst auf der Baustelle, liest sich aber ein und vergibt die Aufträge per Outsourcing. Etwa, da Expertenwissen in der Schweiz zu der Zeit rar gesät war, an Johann Gottfried Tulla, den badischen Ingenieur, Hydrotechniker und späteren Meister der Rheinbegradigung. «An dem Kooperationsprojekt – Escher managt, Tulla baut – sieht man, wie sich Schweizer und deutsche Geschichte verbinden», stellt Hannig fest.
Geschäft für Versicherungen
Doch bei der Linth bleibt es nicht. Wäre ein Mensch aus dem 18. Jahrhundert per Zeitreise im späten 19. Jahrhundert gelandet, hätte er sein Land nicht mehr wiedererkannt. Fast alle Flüsse zwang man in einem Grossangriff auf die Natur in teilweise schnurgerade Kanäle. «Eidgenossen im Korrektionsfieber», schreibt Hannig.
Auch der Berner Umwelt- und Klimahistoriker Christian Pfister sieht die Linthbegradigung als Schrittmacher der Modernisierung und als Wegbereiter der Schweizer Solidargemeinschaft. Daher auch sein Ausdruck der «Naturkatastrophe als Kriegsersatz»: als Feind, gegen die sich die Nation verbündet.
Aber da sei nicht alles rosig gewesen, entgegnet Nicolai Hannig. Die Praxis der Spenden und Hilfsabgaben, Liebesgaben genannt, die als ein Symbol der Solidargemeinschaft gilt, habe immer wieder für Unmut gesorgt, weil das Verteilungsverfahren nicht gerecht war. Und in manchen Gebieten kann man keine Hilfe anbieten, weil man schlicht nicht hinkommt. Ist das betroffene Gebiet zudem zu klein, um Aufsehen zu erregen, gibt es gar keine Spende. Langfristig helfen die Eingriffe in die Natur nur bedingt. Im Gegenteil: Die Bevölkerung wächst stetig, und so werden auch Flussufer als Baugebiete ausgewiesen. Es gibt zwar seltener Überschwemmungen, aber wenn sie auftreten, verursachen sie grössere Schäden, weil sich mehr Werte in den Gefahrenregionen konzentrieren.
In San Francisco für Europa gelernt
In diese Bresche springen die Versicherungen. Lange schreckten sie vor den Summen zurück, die im Spiel sind. Beim Erdbeben von San Francisco 1906 endet das in einem peniblen Aufrechnen der Schäden, weil Brände versichert waren, Erdbeben aber nicht. Weil auch Akten verbrannt waren, wusste man kaum, wer überhaupt versichert war. Doch langfristig wollen sich die europäischen Pioniere Schweizer und Münchner Rück das Geschäft nicht entgehenlassen. Sie werden auch von der Politik gefördert, die auf diese Weise ihre Aufgabe, Hilfszahlungen zu leisten, an die Privatwirtschaft delegieren kann. Um versichern zu können, braucht man aber verlässliche Risikoabschätzungen. So beginnen die Versicherungen, Gefahren zu berechnen, Statistiken zu erstellen. Sukzessive werden sie zu Kompetenzzentren für Erdbeben- oder Hochwassergebiete.
In der Schweiz kann sich das Versicherungswesen erst nach der Gründung des Bundesstaats 1848 etablieren – im europäischen Vergleich recht spät. Doch weil bereits 1886 das Eidgenössische Versicherungsamt gegründet wird, das die privaten Versicherungen reguliert, wächst das Vertrauen der Menschen rasant. Als sich die Erkenntnis
durchsetzt, dass es bei dieser Topografie jeden treffen kann, gelingt es auch in fast allen Kantonen, eine obligatorische Elementarschadenversicherung durchzusetzen.
Vollständigen Schutz gibt es nicht
Und doch verbreitet sich die Erkenntnis, dass in einer dichten Infrastruktur ein vollständiger Schutz illusorisch bleiben muss. Zudem sind die Massnahmen von Anfang an umstritten, wie Christian Pfister aufzeigt hat. Manche Soziologen bezeichnen Naturkatastrophen als Kulturkatastrophen: Eine Lawine in einem unbewohnten Tal verursacht kaum Schäden; erst das Besiedeln eines Risikogebietes macht das Naturereignis zur Katastrophe, wie der Niedergang der Schlammlawine in Gondo (VS) im Herbst 2000 gezeigt hat.
An die Stelle der Vorsorge tritt der Wunsch, Gefahren in den Griff zu bekommen, treten Naturschutz, Frühwarnsysteme und Nachsorge, etwa in Gestalt der Katastrophenschutzdienste. Doch die werden politisch ausgenutzt: Die Schweiz etwa diskutiert in den 50er- und 60er-Jahren, ob sich die Neutralität mit einem Hilfsdienst aussenpolitisch legitimieren lasse, der weltweit Hilfe anbieten könnte.
«Das Verhältnis von Vorsorge und Katastrophe ist bis heute ambivalent», sagt der Historiker Nicolai Hannig. Auf der einen Seite überlassen wir nichts dem Zufall, verhindern zum Beispiel mit Computerprogrammen Verbrechen. «Auf der anderen Seite haben wir die gelebte Sorglosigkeit, von der Suche nach Abenteuern bis zur Vorsorgeverweigerung – denken Sie nur an die Impfpflicht-Diskussionen.»
Nicolai Hannig: Kalkulierte Gefahren. Naturkatastrophen und Vorsorge seit 1800. Wallstein 2019, 654 Seiten.