NZZ am Sonntag, Kultur, 2. Dezember 2018
Früher kam die Musik im Theater vom Band, der Text von den Schauspielern. Heute haben Livemusiker ihren grossen Auftritt.
Gehen wir ins Schauspiel oder ins Konzert? Die Zeiten sind vorbei, in denen an dieser Frage die Abendplanung scheitern konnte. Heute gibt es Inszenierungen, die sind mehr Konzert als Schauspiel. Es gibt kaum noch ein Programmheft, in dem nicht unter den Schauspielern auch Musiker aufgelistet sind, weil die ebenso oft beschäftigt werden. Da hetzt ein Jirka Zett als Woyzeck durch die Zürcher Schiffbauhalle, getrieben nicht nur vom Rhythmus der Büchnerschen Sprache, sondern auch von Becky Lee Walters’ Gesängen und den Beats ihrer beiden Musiker. Da klampft eine Maartje Teussink in Alize Zandwijks Version von Ibsens «Die Wildente» sehnsüchtigatmosphärisch-hippieartig. Aber auch Livemusiker Iñigo Giner Meranda kann Barbara Freys Inszenierung des «Hamlet» am Zürcher Pfauen nicht mehr zum Leben erwecken. Mancher Einsatz mag sinnvoll sein, aber wenn Livemusiker zur Masche werden und in (beinahe) jedem Abend einer für Atmosphäre sorgen muss, kann man sich schon fragen: Warum glauben die Regisseure, dass die Schauspieler das nicht mehr selbst können?
Marthaler als Urheber des Übels
Früher kam die Musik vom Band, die Schauspieler spielten und sprachen. Ausnahmen waren Ausnahmen und blieben das auch. Was für eine tragende Rolle die Musik trotzdem spielen konnte, zeigt etwa Michael Thalheimers Inszenierung von Lessings «Emilia Galotti» am Deutschen Theater Berlin. «Yumeji’s Theme» aus Wong Kar-Wais Film «In the Mood for Love» hetzte das grandiose Ensemble mit unbarmherzigem Rhythmus und traumverlorener Melodie 183-mal über die Bühnen von Berlin über Moskau und New York bis Tokio.
Doch auch diese Arbeit bestätigte die Regel: Wenn Schauspieler singen oder Livemusik wollten, mussten sie einen privaten Liederabend auf die Beine stellen, den sie dann spätnachts auf der kleinen Bühne darbieten durften. Oder die sangesfreudigen Spieler fanden sich zusammen für Werke wie «Rocky Horror Picture Show» oder die Paul- Abraham-Operette «Die Blume von Hawaii». Beides sind Musicals für Schauspieler, die «Blume» tanzte erst in der Spielzeit 2017/18 über die Grosse Bühne des Theaters Basel. Mit solchen Zwittern zeigten die Schauspieltheater schon vor Jahrzehnten, dass es wichtiger sein kann, dass gute Spieler halbwegs ordentlich singen als dass gute Sänger eben nur halbwegs ordentlich spielen können.
Zwei, die das beinahe gleichzeitig erkannten und als ihren unique selling point nutzten, waren Christoph Marthaler und Franz Wittenbrink. Sie machten ab den achtziger Jahren die singenden Schauspieler und damit sich selbst berühmt. In der Kantine des Theaters Basel sollen sie dermaleinst «gesessen, gesoffen und gelästert» haben, wie sich Franz Wittenbrink gerne erinnert. Intendant Frank Baumbauer habe sie dann gezwungen, «mal was zu tun. Das haben wir dann. So fing es an. Bei Marthaler und bei mir.»
Die Zeit der Liederabende
Was anfing, waren die Liederabende. «Säkularsatirisch» bei Wittenbrink, mit griffig- alltäglichen Titeln wie «Sekretärinnen», «Männer» oder «Mütter». Diese erzählten ihre Geschichten nur über Lieder, viele davon poppig, griffig und altbekannt, manche nichts davon, aber überraschend passend. Marthalers Liederabende seien hingegen «sakralsatirisch», wie ein Kritiker der Tageszeitung «Die Welt» treffend kontrastierte. Marthaler wählte poetisch-endlose Titel wie «Stägeli uf, Stägeli ab, juhee!» oder «Murx den Europäer! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn ab!» und liess darin auch einmal seine Schauspieler mit endlosem «Danke für diesen guten Morgen» in unermessliche (Ton-)Höhen klettern.
Mittlerweile hat sich Wittenbrink zur Ruhe gesetzt und Marthaler die Grenzen zur Kammermusik fast geschliffen, wenn er Abende um die Sängerin Tora Augestad drapiert. Oder für das neue «44 Harmonies from Apartment House 177» ab 5. Dezember am Zürcher Schiffbau Werke von John Cage, Richard Wagner, Johann Sebastian Bach, Ludwig van Beethoven und Robert Schumann zusammensetzt.
Die beiden rissen den Deich ein. Jetzt schwappte die Livemusik-Welle ungehindert über die Theaterlande. Haben nicht heute ohnehin alle immer und überall Musik auf den Ohren? Werden nicht in Jugendsendern sogar Nachrichten mit Musik unterlegt? Das Theater wollte da nicht hintanstehen. Weil aber Schauspieler im Allgemeinen doch sehr mit Spielen beschäftigt sind, wurden sie entlastet – der Siegeszug der Livemusiker begann. Erst traten sie selten auf. Dann öfter. Dann inflationär. Bis die Zuschauer die Augen verdrehten, wenn wieder ein Keyboard im Bühneneck stand. Oder der Musiker endlos schrammeln musste, weil das Bühnenbild so kompliziert war, dass der Umbau ewig dauerte. Oder wenn das Publikum nicht selbst die Atmosphäre der Szene erspüren durfte, sondern raunende Gitarrenangst oder melodiöse Klavierfreude präsentiert bekam.
Schauspieler können es besser
Die Fähigkeit des Theaters, Moden und Strömungen aufzugreifen und sich einzuverleiben, ist sehr ausgeprägt, lässt es zuweilen aber seine eigenen Stärken vergessen. Leider ist seine Fähigkeit, das zu erkennen, nicht ganz so ausgeprägt. Trotzdem scheint sich die Einsicht breit zu machen, dass man Livemusiker gelegentlich weglassen könnte. In Tennessee Williams’ «Endstation Sehnsucht» in der Regie von Bastian Kraft am Pfauen fehlen sie ganz.
Dafür knarzt Schauspielerin Miriam Maertens als Nachbarin Eunice hochgekonnt Tom-Waits-Songs ins Mikrofon, behauptet «God’s away on Business» oder «We’re all gonna be just Dirt in the Ground» und verortet damit die Inszenierung zwischen Endstation und Sehnsucht, zwischen Hoffnungslosigkeit und Tod. Und Elisa Plüss baut sich in «Wahlverwandtschaften» nach Goethe, in der Regie von Felicitas Brucker ebenfalls im Zürcher Pfauen, die Loops für ihren Gesang gleich selbst. Eben: Sie können es, die Schauspieler, sie brauchen nicht ständig musikalische Unterstützung. Und wenn, darf die auch vom Band kommen. Wie schön wäre es, würden die Theater das bemerken.
«Wahlverwandtschaften» wird bis 16. 1., «Endstation Sehnsucht» bis 28. 1. 2019 gespielt.