NZZ am Sonntag, Kultur, 22. September 2019
Nicolas Stemann und Benjamin von Blomberg starten fulminant in ihre Intendanz am Schauspielhaus Zürich. Alles ist bunt: Foyer, Ensemble und Publikum. Hoffentlich bleibt das so.
Die Gegenwart
Seit drei Monaten ist die Ära Barbara Frey am Zürcher Schauspielhaus Geschichte. Schon das fünftägige Eröffnungsfestival der Intendanten Nicolas Stemann und Benjamin von Blomberg und der acht Regisseure und Regisseurinnen zeigt, was vorher gefehlt hat. Plötzlich ist die ganze Vielfalt der menschlichen Spezies zu sehen, alle Altersstufen und Nationalitäten. Alle Geschlechter und Hautfarben. Und zwar nicht nur auf der Bühne. Sondern auch davor, im Publikum. Plötzlich sind da Menschen, die man zwar im Alltag sah, aber nicht im Theater. Damit könnte Zürich einen Ort der Auseinandersetzung bekommen, an dem sich die ganze Gesellschaft trifft. Wie grossartig das wäre!
Aber der Reihe nach: Die acht Hausregisseure haben zum Eröffnungsfestival jeder ein Werk gezeigt, das, so die offizielle Beschreibung, «ihnen besonders am Herzen liegt», und das ab sofort – immer englisch übertitelt – im Repertoire zu sehen ist. Grob und vorläufig könnte man die acht, Stemann inklusive, in drei Gruppen einteilen: Die Grenzgänger, die Genrezäune einreissen. Die Jungen Wilden, die stürmische Unruhe bringen. Und die Gesetzten, die den Werken und Autoren mit Lebenserfahrung und Respekt begegnen, ohne sie aufs Podest zu setzen.
Die Grenzgänger
Alexander Giesche, Jahrgang 1982, gestaltet weniger Handlungen als Räume und Situationen. Er hat das Foyer des Pfauen radikal verändert: Auf dem Boden statt rotem Teppich grauer Beton, dazwischen Neongrün und Neongelb. Neu der Platz für Sitzgelegenheiten und Leuchtstreifen, die Stimmungen von kaltem Weiss bis zu wilder Disco verbreiten. Giesche will auch in einem vernebelten Kubus das Internet erfahrbar machen. Besucher müssen sich hustend einen Weg durch eine bunte Nebelcloud suchen. Dazu hören sie Sätze wie: «Könnte unser Chaos aus grösserer Distanz als Harmonie betrachtet werden?» Das ist zuweilen hochgeistig, banal oder moralisch. Und verwirrend.
Wu Tsang, Jahrgang 1982, ist Filmemacherin und Performancekünstlerin. Das Publikum von «Sudden Rise» ist der Beweis, dass das Sternchen in Zuschauer*innen viele Menschen betrifft. Wu Tsang, in Massachussetts geboren, arbeitet mit Boychild als «Moved by the motion». «Sudden Rise» ist zunächst schiere Überforderung. Wu Tsang spricht einen Text, der sowohl englisch als auch deutsch schlicht unverständlich ist. Doch reicht es, Sätze zu verstehen wie «There ist no nonviolent way to look at anybody», Titel auch von Wu Tsangs aktueller Ausstellung im Berliner Gropiusbau. Der Prolog – eine schnelle Montage von Skizzen historischer Experimente – setzt den Themenkreis von Sehen, Optik, Perspektiven. Boychild und Josh Johnson steigen langsam eine Rampe empor, treffen sich oben. Oder ist nur einer real und der andere Videoprojektion? Was stellen sie dar? Hohepriester? Sklaven? Das Spiel mit Illusion und Realität ist Teil der queeren Identität. Das rätselhafte Geschehen entwickelt einen ungeheuren Sog. Noch Tage später schwirren Bilder durch das Hirn.
Trajal Harrell, Jahrgang 1973, arbeitet auch über Hautfarben, Geschlechter- und Genregrenzen hinweg; für «Romeo & Juliet», das im Dezember von den Münchner Kammerspielen nach Zürich kommen wird, mischt er Schauspiel mit Tanz. Vorerst zeigt er reinen Tanz mit «In the Mood for Frankie», das er als Artist in Residence am Museum of Modern Art MoMA New York erarbeitete. Auf dem Boden der Schiffbauhalle ein Patchwork aus Marmor- und stoffbezogenen Platten. Darauf kombinieren Harrell, Ondrej Vilar und Thibault Lac japanischen Butoh-Tanz, Modern Dance und Voguing. Letzterer stammt aus der homosexuellen Subkultur New Yorks und baut die Laufstegposen von Models ein, um trotz Diskriminierung selbstbewusst den Körper zu zeigen.
Bei Harrell bleiben von den schönen Kleidern der Models nur Fetzen bunten Stoffs übrig. Dazu mimt Lac mit Posen griechischer Statuen die Muse und Harrell den Künstler, dem die Ideen ausbleiben und der seine Verzweiflung in Alkohol ertränkt. Der strahlend helle Marmorboden hat sich da längst ins Dunkle gewandelt. Er war ohnehin nicht echt.
Die Jungen Wilden
Suna Gürler, Jahrgang 1986, soll Themen von Jugendlichen mit Jugendlichen auf und vor der Bühne verhandeln. Sie hat ihre Karriere am Jungen Theater Basel begonnen und bringt von dort «Flex» nach Zürich. Die sechs jungen Frauen können kaum stillsitzen, so sehr brennt ihnen das Thema «Frau sein» unter den Nägeln: Sie tanzen, rufen, schreien, diskutieren. Und agitieren. In eigenen Texten und solchen der britischen Feministin Laurie Penny. Das ist voller Ideen und Tempo, auch voller Angst und Wut. Und 100 Prozent Frauen- und 100 Prozent Laienpower.
Leonie Böhm, Jahrgang 1982, zeigt in «Kasimir und Karoline» nach Ödön von Horváth, was von einem Drama übrig bleibt, wenn man die Handlung herausskelettiert und Schauspieler nur ein paar Kernsätze sagen lässt. Drei männliche Schauspieler und ein Musiker auf der Bühne, meistenteils schweigen sie. Können Kasimir und Karoline ein Paar bleiben, obwohl Kasimir arbeitslos ist? Natürlich, sagt Karoline, und ist schon allein wegen der Frage so beleidigt, dass sie fremdgeht. Für ein bisschen Spass im Leben, ein Eis hier, eine Achterbahnfahrt da. Kasimir ist wenig lustig zumute, Lukas Vögler, neu im Ensemble, spielt ihn stoisch, mit nach innen gekehrter Trauer. Cedric von Borries’ Karoline hingegen quirlt und tanzt und turnt. Das ist gut gespielt, zuweilen nah bei Horváth, zuweilen reichlich naiv. Die Abschlussarbeit einer talentierten Regisseurin. Nicht weniger, aber auch noch nicht viel mehr.
Christopher Rüping, Jahrgang 1985: Dreimal wurde Christopher Rüping schon zum Theatertreffen eingeladen, gerade seine zehnstündige Antiken-Inszenierung «Dionysos Stadt» zur Inszenierung des Jahres gewählt (und Hauptdarsteller Nils Kahnwald, neu im Ensemble, zum besten Schauspieler). Rüping hat vor zwei Jahren «Der erste fiese Typ», das Romandebüt von Miranda July, einer Ikone der Popkultur, in München uraufgeführt. Als die Zuschauer in den Pfauen kommen, wälzen sich Maja Beckmann und Henni Jörissen ringend auf dem Boden. Beckmann ist Cheryl, 40, erfolgreich, schrecklich einsam. Henni Jörissen ist Clee, die 20-jährige Tochter von Cheryls Chefs, verzweifelt auf der Suche nach dem eigenen Platz im Leben. Jede will recht haben, jede der anderen ihre Interpretation unterjubeln. Dann, ganz langsam, wird aus der Prügelei die einzig mögliche Form von Berührung, die sie sich und ihrer Liebe zugestehen. Maja Beckmann ist schlicht phänomenal. So genau Gestik und Mimik, so unbändig und laut, so leise und fein haut sie Cheryl auf die Bühne. Und so frei und wild sah man Henni Jörissen, die im Ensemble blieb, noch nie. Diese Kraft und Energie und Schauspielkunst lässt auf grosse Abende hoffen.
Die Gesetzten
Yana Ross, Jahrgang 1973: Wer von Schauspielkunst redet, muss von Danuta Stenka reden. Einzige Darstellerin in «Wunschkonzert » von Franz Xaver Kroetz, inszeniert von der russisch-litauischen-amerikanischen Regisseurin Yana Ross. 80 Minuten verrichtet Stenka alltägliche Dinge: Einkäufe verräumen, Kleidung wechseln, essen, fernsehen. Und sagt kein einziges Wort. Ordnung und akkurateste Sauberkeit sind ihre Maximen, die nur von Songs aus dem Radio unterlaufen werden. Am Ende wird sie sich mit derselben Akkuratesse umbringen. Stenka zuzuschauen, ihrem von Welt und Publikum abgekapseltem Spiel, in sich versunken und doch beredt, das ist unheimlich-faszinierend.
Nicolas Stemann, Jahrgang 1968: Und dann ist da noch der Intendant Stemann selbst, mit Goethes «Faust 1+2» in der Dramaturgie von Ko-Intendant von Blomberg. Beide Teile hintereinander dauern achteinhalb Stunden. Das ist Wahnsinn und hat doch Methode, schliesslich reist Faust erst durch die kleine, dann die grosse Welt. Der erste Teil kommt fast konventionell daher, als Kammerspiel für drei Solo-Schauspieler. Auch Sebastian Rudolph zeigt eine Sternstunde der Schauspielkunst. Er ringt mit sich, streitet, kämpft, denn er hat nicht nur zwei Seelen in seiner Brust. Sondern auch Gott, Engel und Teufel. In «Faust 2» greift Stemann in die Regietrickkiste. Zeigt Puppenspiel, Improvisationen (auch auf Schweizerdeutsch) und den klassischen Akt um Helena als klassisches Theater. Er lässt Sachiko Hara Passagen auf Japanisch sprechen, spielt (auch mal selbst) Musik von Discopop bis Sakralgesang. Am Ende dann ein Musical als Ode aufs «Unzulängliche», «Unbeschreibliche», «Ewig-Weibliche». Immer wieder sagen die Frauen kopfschüttelnd: «Du lieber Gott, was so ein Mann nicht alles, alles denken kann.» Aber längst ist aus dem Mann der Worte der Mann der Tat geworden, hat er sich die Welt untertan gemacht, künstliche Intelligenz, Umweltzerstörung, Finanz- und Klimakrise inklusive. Goethe hat’s vorhergesehen. Stemann zeigt’s.
Die Zukunft
«Die Pfosten sind, die Bretter aufgeschlagen. Und jeder erwartet sich ein Fest.» Sagt der Theaterdirektor im «Faust». Die Aussichten für das Fest am Zürcher Schauspielhaus stehen gut. Die acht Hausregisseure, die mindestens drei Jahre bleiben werden, haben gute bis sehr gute Arbeiten abgeliefert. Auch manche Schauspieler versprechen Grossartiges. Aber keine der bisher gezeigten Arbeiten ist hier entstanden. Jetzt muss aus den Einzelnen ein Ganzes werden, das sich insgesamt mit Zürich auseinandersetzt. Die Stile müssen sich mischen, die Regiesprachen, die Genres, sonst wird das Fest ein Reinfall. Dafür hat man sich Zeit gegeben: Statt der branchenüblichen über 20 Premieren, zeigt das neue Team nur 14, dazu kommen Koproduktionen und weitere Übernahmen. Klar ist aber: Für die anderen Theater wird es schwieriger, sich thematisch abzugrenzen. Die drei neuen Neumarkt-Intendantinnen Tine Milz, Julia Reichert und Hayat Erdogan versuchen es mit den drei Labels «Playground» für künstlerische Experimente, «Theater» für zeitgenössische Stoffe und «Akademie» für Gespräche, Diskussionen, Konferenzen. Das erste Stück «They Shoot Horses, Don’t They?» zeigte langweiliges Agitprop-Theater. Die Zürcher Theaterlandschaft ist in Bewegung gekommen. Mit seinem Start verspricht das Schauspielhaus viel.