Zum Staunen und Wundern


St. Galler Tagblatt, Ressort Focus, 31. März 2015

Nicht Sachbuch, nicht Belletristik, sondern das Beste von beidem: Die aufwendig gestaltete Reihe Naturkunden des Berliner Verlags Matthes & Seitz untersucht die Natur und ihre Geschöpfe in allen nur erdenklichen Dimensionen.

Es begann mit den Krähen. Dann kamen die Berge Kaliforniens, die Entdeckung der Natur, Äpfel und Birnen und der Esel. Schliesslich war es Zeit für den kurzen Bericht von der Unermesslichkeit der Welt. Um diese Unermesslichkeit geht es in allen Bänden der Reihe Naturkunden, die der Berliner Verlag Matthes & Seitz seit 2013 herausgibt.

Als Herausgeberin fungiert die 34jährige Deutsche Judith Schalansky. Als Gestalterin und Erfinderin so ungewöhnlicher Bücher wie dem «Atlas der abgelegenen Inseln» oder dem Roman «Der Hals der Giraffe» hat sie sich einen Namen gemacht – beide Titel wurden als schönste deutsche Bücher ausgezeichnet.

Die passende Form

«Ich finde die Unterteilung in Fiction und Nonfiction furchtbar », sagte Schalansky in einem Interview mit der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung». Und so sind ihre Bücher ernst zu nehmende Sachbücher, spannend und anregend zu lesende Literatur – und zudem wunderschön. «Ich bin wahnsinnig glücklich», sagt Schalansky, «dass ich etwas gefunden habe, was ich mag und was ich offensichtlich kann: Durch langes Nachdenken zu jedem Inhalt die angemessene Form finden.»

Zum Beispiel «Die Karte der Wildnis», Naturkunden-Nummer 18 (16 «Pilze» und 17 «Schweine» sind noch nicht erschienen). Robert Macfarlane, britischer Essayist und Literaturwissenschafter, will nicht glauben, dass es in seiner Heimat keine Wildnis mehr geben soll. Und so macht er sich auf, setzt sich in die Krone einer Buche, reist auf Inseln, in Täler und Wälder, durch Moore und auf Gipfel – und findet eine ganz andere Wildnis, «die Wildnis des natürlichen Lebens, die reine Kraft der andauernden, lebendigen, chaotischen, organischen Existenz. Diese Wildnis war nicht von Schroffheit bestimmt, sondern von Üppigkeit, Vitalität, Vergnügen», schreibt er.

En passant streift er die Geschichte der Wildnis, in Legenden und Mythen, in Literatur, Malerei, Naturforschung. Und erlebt sie auf langen Spaziergängen, Wanderungen und Bergbesteigungen. Jedes Kapitel wird eingeleitet von einem schwarzweissen, beinahe mystisch wirkenden Bild. Und im Einbandinnern findet sich: die Karte der Wildnis, die Macfarlanes Reisen ergibt.

Ein wildes Gefühl

«Jedes Buch muss zeigen, was es kann, und sich seines Buch- Seins neu bewusst werden: Was kann ein Buch, was andere Medien nicht haben?», fragt Judith Schalansky. Und beantwortet die Frage mit ihrer Reihe ganz klar: Es bietet ein sinnliches Vergnügen, das freudiges Stöbern, Sich- Vertiefen und plötzliches Weiterhüpfen erlaubt. Es ist aber auch ein haptisches Erlebnis. Natürlich haben die Bücher keine Schutzumschläge, und natürlich fühlt sich die Karte der Wildnis – wild an: ein Auf und Ab im gestanzten Titel, ein glattes Hin und ein ruppiges Her im Gebiet der Meere, ein Rutschen auf den Kontinenten. Und alles gepackt in wucherndes Pflanzengrün.

Ganz anders die «Cactaceae», Nummer 14 der Naturkunden: Ein in die Augen stechendes Pink für den Titel, ein kühl wirkendes Glatt für den Rest, wie der Korpus der Kakteen. Üppig ist der Band mit Fotos ausgestattet, die die Fotografin Johanna Ruebel zum Teil in der Sukkulentensammlung Zürich aufnahm.

Astrophytum und Zygocactus

Kakteen-Autorin Judith Zander beschreibt 25 Arten, von Astrophytum asterias bis Zygocactus truncatus, nennt zu jeder wissenschaftliche Daten wie Grösse, Blüte, Dornen, Anzahl der Unterarten und Grad der Gefährdung.

Mit jedem Band wechselt Grösse und Gestaltung des Einbandes und der Aufbau des Textes. Der «Kurze Bericht von der Unermesslichkeit der Welt» wird unterteilt von akkurat gesetzten Strichen, einem Meterband gleich, und kommt fast ohne Bilder aus. «Äpfel und Birnen» zeigt das Gesamtwerk des Pfarrers Korbinian Aigner (1885–1966): 800 Aquarelle und Zeichnungen von Äpfel- und Birnensorten.

Die Reihe umfasst neue und alte Werke, die noch immer Gültigkeit bewahrt haben. Und Band 8 zeigt «Die verlorenen Welten des Zdenek Burian»: prähistorische Szenen, auf denen Brontosaurier, Neandertaler oder Mammuts wieder auferstehen.

Nein, nicht alles ist wissenschaftlich untermauert. Der leidenschaftliche, immer phantasievolle, zuweilen sogar träumerische Zugang zu Naturphänomenen lässt grossen Platz für Vorstellungen, Wünsche oder Ängste. Band 15 zeigt «Wahre Monster. Ein unglaubliches Bestiarium ». Band 19 wird eine «Naturgeschichte der Gespenster» bieten, Untertitel: Eine Beweisaufnahme. Die Natur und ihre unglaublichen Einfälle sind auch Objekt wissenschaftlicher Forschung. Aber zuerst ein Ort zum Staunen und Wundern.

www.matthes-seitz-berlin.de