St. Galler Tagblatt, 17. November 2012
Lukas Bärfuss ist einer der meistgespielten Schweizer Theaterautoren, er ist Dramaturg, Moderator und unbequemer Intellektueller. In allen diesen Rollen fühlt er sich sehr wohl. Porträt eines Menschen, der es sich und anderen nicht leichtmacht. Und dessen Finger immer neue Wunden findet, um darin zu bohren.
Lukas Bärfuss beisst sich fest. Weil er unbequem ist und unbeirrbar. Weil er weiss, wo spannende Themen unentdeckt schlummern. Weil er sprachlich versiert und phantasievoll genug ist, um sie in die Öffentlichkeit zu bringen. Weil er gerne auf Risikogeht und auch Niederlagen wegstecken kann. Und vor allem: Weil er es liebt, das Festbeissen.
Berufswunsch: Käser
Das war ihm 1971 in Thun nicht an der Wiege gesungen. Aufgewachsen im «Bible Belt» zwischen Mormonen, Zeugen Jehovas und Protestanten. Geboren in eine Patchworkfamilie, das war zu der Zeit noch recht ungewöhnlich. In der Schule hält es ihn nur neun Jahre, dann ist Schluss.«Ich war ein Schulversager.» Er will Käser werden oder Archäologe. Weil das Produkt des einen verdirbt, wenn man es nicht verarbeitet, und der andere nach Altem gräbt, sei «Schriftsteller eine sehr schöne Symbiose», befand er kürzlich in Zürich im Hottinger Literaturgespräch mit dem Publizisten Charles Linsmayer.
Bärfuss erzählt gerne von sich, dosiert aber genau, was er preisgibt und was er für sich behält. Wenn ihm Fragen unangenehm sind, schaut er am Gesprächspartner vorbei, als wäre der aus Luft. Wenn er berichtet, wie er dem Militär entkam, ist ihm die diebische Freude darüber noch heute ins Gesicht geschrieben: Keiner wusste, wie sein nächtliches Zähneknirschen einzuordnen sei. Also wurde er immer weiter zum jeweils nächsthöheren Dienstrang geschickt –und am Schluss vom Oberleutnant freigestellt.
Keine Furcht vorgrossen Idolen
Ruhig sitzt Bärfuss in Zürich-Hottingen auf seinem Stuhl. Jeans, blaues Jackett, weisses Hemd, braune Schuhe, schwarzer Rucksack – nicht die Kleidung ist es, die auffällt. Vielmehr dieses eckige, kantige, lange Gesicht, die kleinen, aber unheimlich wachen Augen, die hohe Stirn, die markante Nase. Eine Tolle fällt ihm ins Gesicht, manchmal fährt er mit der Hand hindurch, aber die Haare sind so störrisch wie ihr Besitzer und fallen, wie es ihnen passt.
Nach seinem kurzen Gastspiel beim Militär findet er eine Stelle in der Comicabteilung einer Buchhandlung in Bern, besteht nach drei Praxisjahren bravourös die Lehrabschlussprüfung, beginnt dann, als Schriftsteller zu arbeiten. Genauer: Er behauptet, Schriftsteller zu sein. Dürrenmatt habe es genauso gemacht. Bärfuss hat keine Angst vorgrossen Vorbildern. Und er stellt verblüfft fest: «Die Leute glauben, was man ihnen erzählt.»Die Erkenntnis wird ihm noch helfen.
Die Prophezeiung in eigener Sache erfüllt sich bald: Lukas Bär- fuss bekommt ein Stipendium, beginnt zu schreiben. «Ich wollte den Erfolg, das heisst, ich wollte von meiner Arbeit leben können, das war mein Ziel, als ich Schriftsteller wurde», sagt er im Interview mit der Zeitschrift «Viceversa». Er erreicht es schnell. Zusammen mit Samuel Schwarz und Udo Israel gründet er die Theatergruppe 400asa. Die Reduktion ist Thema, die Improvisation Programm. Aber am wichtigsten sind die spielerische Provokation und das Anrennen gegen das Establishment.
Establishment liebt Provokation
Das Establishment mag das anscheinend, denn beinahe im Handumdrehen wird die Truppe bekannt, sie spielt an grossen Häusern in Basel und Zürich, in Hamburg, Bochum (bei Matthias Hartmann) und Wien. Zwischen Januar und Juni 2000 werden vier Stücke uraufgeführt. «Ich war parat, hatte schon einiges geschrieben und konnte die Lücke füllen, die nach Frisch, Dürrenmatt und Hürlimann klaffte», befindet er im Interview mit «Viceversa». Wie gesagt: Angst vor grossen Vorbildern kennt er nicht.
Bärfuss trennt sich von der Truppe, schreibt unter eigenem Namen weiter. Angeregt von den repressiven Massnahmen gegen Behinderte und der Tatsache, dass diese in der Schweiz bis 1974 zwangs sterilisiert wurden, schreibt er «Die sexuellen Neurosen unserer Eltern » über Behindertensex und Zwangspsychiatrie. Das Stück wird landauf, landab nachgespielt und Bärfuss von der Fachzeitschrift «Theater Heute» zum Nachwuchsautor des Jahres 2003 gekürt. Sehr gekonnt gestaltet er die Figur der Dora, die –nicht mehr von Medikamenten ruhiggestellt – ihre Liebe zum Sex entdeckt. Ehe sich der Zuschauer versieht, steckt er in tiefen Fragen zum Thema Zwangssterilisation und unwertes Leben. «Falsche Gefühle interessieren mich, wenn der Zuschauer merkt, was er jetzt fühlt, das ist unmoralisch», sagt Bärfuss.
Im Stück «Der Bus (Das Zeug einer Heiligen)», seiner Antwort auf den heimatlichen «Bibelgürtel », beschäftigt er sich mit Religiosität, in «Alices Reise in die Schweiz» mit dem Sterbetourismus. Bärfuss sucht nach Boden, den nicht alle beackern. Aber solchen, den man sich ansieht und fragt: Warum wollte den vorher keiner haben?
Die Wut trägt ihn
Extremstes Beispiel: «Hundert Tage», der bisher einzige Roman. Alle Länder, erzählt Bärfuss in Zürich, hätten ihre Vergangenheit in Ruanda aufgearbeitet. Nur die Schweiz nicht. Also habe er es gemacht. «Ich will ein Bewusstsein schaffen, wo es vorher keines gab», sagt er. Und wenn er von seinen Erfahrungen in Ruanda berichtet, wohin er wegen der Tätigkeit seiner Frau gereist sei, echauffiert er sich heute noch. Diese Wut, spürt man, die trägt ihn. Ohne sie hätte er die Kraft nicht, sich so detailliert in neue Themen einzuarbeiten, sich durch Archive und Bibliotheken zu wühlen, sich allein am Schreibtisch zu quälen. Die Wut ist bis in sein Stück «Öl» (2009) geflossen, das sich noch mit ähnlichen Themen beschäftigt: Kapitalismus, das schwarze Gold, Einsamkeit in der Fremde. In «Malaga» erzählt der zweifache Vater Bärfuss von egoistischen und überforderten Eltern, in «Zwanzigtausend Seiten» beschäftigt er sich etwas papieren mit dem Bergier-Bericht über die Schweiz im Zweiten Weltkrieg.
Einzelkämpfer im Theater
Das Stück «Öl» übrigens findet der Autor schrecklich. Denn Bärfuss sieht sich anscheinend als Einzelkämpfer – eine etwas absurde Einstellung für einen Theatermann. Die phänomenale Uraufführungsinszenierung in der Regie von Stephan Kimmig am Deutschen Theater Berlin mit Nina Hoss in der alles beherrschenden Hauptrolle schlug Wellen in der Theaterwelt – doch der Autorspricht in zwei Stunden nur über seine Leistung und verliert kaum ein Wort über Regisseure, Schauspieler, Theaterleute. Aber was wäre er ohne sie? Stattdessen benutzt Bärfuss dreimal die Formulierung: «Das klingt jetzt vielleicht vermessen, aber…» Beim ersten Mal glaubt man ihm die Bescheidenheit, beim zweiten Mal vielleicht auch noch. Aber spätestens beim dritten Mal macht sich ein schales Gefühl breit.
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Biografie Lukas Bärfuss
Lukas Bärfuss, 1971 in Thun geboren, arbeitet als Schriftsteller in Zürich. Er schreibt Prosatexte («Hundert Tage»), Hörspiele und Theaterstücke (u. a. «Die sexuellen Neurosen unserer Eltern», «Der Bus», «Öl» «20 000 Seiten»), die u. a. in der Schweiz, Wien, Berlin und Hamburg gezeigt werden. Seit 2009 arbeitet er als Autor und Dramaturg am Schauspielhaus Zürich. In der Gesprächsreihe «Weisse Flecken» befragt er einmal monatlich Experten zu Themen an den Rändern unseres Wissens. 2013 erhält er den Berliner Literaturpreis und ein Werkjahr der Stadt Zürich.