Das eingeklemmte Dorf

St. Galler Tagblatt, Titelbild Frontseite und zweiseitige Reportage, 28. Februar 2015

Jeder kennt das «Chileli vo Wasse». Aber wer kennt Wassen? Besuch in einem ungewöhnlichen Dorf, das vom Verkehr lebt, aber keinen Bahnhof hat. Das eine berühmte Kirche hat, aber keinen eigenen Pfarrer, zwei Altersheime, aber keinen Kindergarten. Und das fürchtet, demnächst abgehängt zu werden.

Von Erstfeld schraubt sich der Bus das Reusstal empor. Der Kanton Uri höre beim Brüggli auf, irgendwo hinter Schattdorf, sagen böse Zungen. Aber das stimmt nicht. Erstfeld, Silenen, Amsteg, Intschi, Gurtnellen. Ein Dorf nach dem anderen lässt der Postbus unten liegen. Der erste Wassener Halt: Pfaffensprung. Es ist nur Legende, dass hier einst ein Pfaff über das enge Reusstal hüpfte. Der malerische Name täuscht, seit die Staumauer erhöht wurde und der Wasserfall verschwunden ist. Das Kraftwerk produziert Strom und derzeit viel Ärger.

Gandi und der Kantonspolizist

Die Haltestelle «Wassen Dorf» liegt direkt vor dem Volg. Das hat seine Richtigkeit, denn im Volg trifft sich das Volk. Zuerst erscheint Gandi. Der Schäferhund ist jung, seine Ohren machen ganz oben noch schlapp, aber der Rest des Tiers ist äusserst aufgestellt. Nur dass er jeden, den er begrüsst, spielerisch beisst, das muss ihm sein Herrchen noch abgewöhnen. Alois Tresch weist alle Schuld von sich. Gandi ist einer von vier Pflegehunden, die der ehemalige Kantonspolizist wechselweise hütet. Es fällt leicht sich vorzustellen, wie sich der joviale Mann, Bauch voran, durch sein Revier schiebt und nach dem Rechten sieht. Herr Tresch will er nicht genannt werden, «das ‹Herr› war mir zu teuer», erklärt er strahlend. Das Strahlen vergeht ihm, als er sich erinnert, was das Schlimmste seiner Berufszeit war. «Die toten Kinder, die ich unter den Autos hervorziehen musste.»

Einwohnerzahlen seit 1900 halbiert

Wer in Wassen hält, fällt über den Verkehr. Er ist das Thema in Wassen. Der Ort wurde geboren wegen des Verkehrs, er lebt wegen des Verkehrs – und er könnte sterben wegen des Verkehrs. Es wäre kein plötzlicher Tod, sondern einer auf Raten. 1880, während des Baus des Gotthardtunnels, lebten 2744 Menschen hier. 1900 waren es 950, heute sind es 442. Eine Fusion mit Göschenen und Gurtnellen liegt in der Luft, heisst es, aber keiner weiss, ob sie die Probleme lösen würde. Schon jetzt teilen sich die Gemeinden den Pfarrer, den Kindergarten und die Schule.

Verschaffen wir uns einen Überblick. Und einen Einblick. Quietschend geht die schwere Holztür zur Pfarrkirche auf. Ein «Chileli» gibt es in Wassen nicht, dafür eine ausgewachsene Kirche. Drei stolze, barocke Altäre des Walliser Altarbauers Jost Ritz finden mühelos im Hauptschiff Platz, das reich mit Stuck verziert ist, aber wegen der fehlenden Bemalung wohltuend schlicht wirkt.

«Der vom Vorgängerbau übernommene Turm ist zum Volumen des barocken Neubaus von 1734 eher zu schmächtig und mag wesentlich dazu beigetragen haben, dass die an sich stattliche Pfarrkirche nur als ‹Chileli› wahrgenommen wird», schreibt der Zürcher Kunsthistoriker Thomas Brunner in der Broschüre «Wassen und seine Kirche». An der Fassade kann man einen gemalten Gallus entdecken. «Der war aber nie hier», ist die einhellige Meinung der Wassner. Kirchenpatron ist er trotzdem.

Wind und Krach für die Toten

Majestätisch thront die Pfarrkirche St.Gallus auf ihrem Hügel über dem Dorf. Drumherum schmiegt sich der Friedhof, auf dem vor allem Menschen begraben werden, die Gamma oder Baumann heissen. Unddie noch im TodWind und Krach ertragen müssen. Denn der Blick von der Kirche ist schockierend. Überall Verkehr. Wohin das Auge schaut. 1991 flog Bundesrat Adolf Ogimit europäischen Verkehrsministern über Wassen. Und bewies ihnen: «Es hat keinen Platz für mehr Autostrassen.»Unüberhörbar unten im Reusstal: Die N2, die Gotthardautobahn. Jeder Lastwagen dröhnt ungehindert den Hang herauf. 565000 rollten im ersten Halbjahr 2014 hier entlang, dabei erlaubt der Alpenschutzartikel 650000 im ganzen Jahr. An der N2 kleben wie zwei eingedrehte Locken die Ein- und Ausfahrten von und nach «Wassen/Sustenpass/ Interlaken». Dazu die Landstrasse ins Dorf. Und Masten und Stromleitungen, die sich über die Hänge winden.

Besonders laut sind unbeladene Waggons

Und natürlich die Eisenbahn. Vom Unterland kommend, fährt sie unten in das Tal hinein. Im Ortsteil Wattingen dreht sie eine Schlaufe im Berg und fährt auf Höhe des Dorfes zurück, seit Jahren ohne Halt am Bahnhof Wassen. Erneut ein Kehrtunnel, ein drittes Mal geht es am Dorf entlang, jetzt hoch oben. Wenn Passagiere im Zug dreimal das «Chileli» sehen, bedeutet das für die Wassner: dreimal alle Züge hören. Inklusive der vielen Güterzüge und ihrer Waggons. Eine Stichprobe ergibt 37 Wagen. Besonders laut hüpfen sie unbeladen über die Gleise.

Noch schlimmer ist es aber im Sommer. «Dann stinkt es nach Abgasen», sagt Kristin T. Schnider. In den Ferien kommen die Staus vor dem Gotthard, dazu Töfffahrer und Ausflügler. Dann wird es gefährlich, die Dorfstrasse zu überqueren. «Wir wollen die Tempolimitschilder nach vorn versetzen», sagt Schnider, «die Leute fahren so schnell, als wären sie noch auf der Autobahn.»

Wohin gehen die Steuern des Kraftwerks?

Kristin T. Schnider ist seit 1. Januar Gemeindepräsidentin. Im Gemeinderat wurden mangels Kandidaten nur vier Stellen besetzt. Das Wort, das die 54-Jährige am häufigsten benutzt, ist «inechnünle ». Sie muss sich in die Unterlagen zum Besitzerwechsel des Kraftwerks Wassen hineinknien, weil der Gemeinde mit der neuen Besitzerin SBB über 250000 Franken Steuern zu entgehen drohen. Auch die Unterlagen zur zweiten Gotthardröhre und zur Tunnelsanierung warten aufs Hineinknien, wenn der Aushub auf Ortsgebiet verladen werden soll.

Wer mit Schnider durchs Dorf wandelt, erlebt spontane Begegnungen und Überraschungen. Die grösste Überraschung aber ist Kristin T. Schnider selbst. Wie kommt die Frau, die als Schriftstellerin zu überleben versucht und im Vorstand der internationalen Schriftstellervereinigung PEN sass, nach Wassen? Sie grinst. «Das wurde mir nicht in die Wiege gelegt.» Diese Wiege stand 1960 in London, die Mutter war Deutsche, der Vater stammt aus der Karibik. Mit einem «kleinen Umweg über Deutschland» landete sie als Einjährige in einer Adoptivfamilie in Zürich. Von dort zog es sie vor über 17 Jahren in die Berge, erst nach Flüelen, dann nach Altdorf, schliesslich 1998 nach Wassen.

«Die Gewalttätigkeit der Landschaft»

Hier scheint sie angekommen zu sein; sie grüsst jeden, wechselt mit vielen ein Wort. Nur ihr kleiner Ethno-Ohrring spricht leise von der grossen, weiten Welt. Ebenso die Tasche mit Indianer-Muster. «The only risk is wanting to stay», steht darauf. Die Warnung, bleiben zu wollen, bezieht sich nicht auf Wassen. Sondern auf Kolumbien. Warum sie irgendwann beschloss zu bleiben? Sie überlegt lange, «es sind wohl die Berge gewesen», sagt sie dann, spricht von der «Gewalttätigkeit der Landschaft», die sie vor allem bei Lawinenabgängen spüre, und davon, wie sie erst hier oben die Schweiz und ihre Menschen verstanden habe.

Lawinen. Noch ein Thema, das die Wassener umtreibt. Vor allem, wenn sie aus dem Meiental kommen, das vor dem Sustenpass liegt und zwischen dem vordersten Weiler Husen und dem hintersten Färnigen zwölf Lawinenzüge zählt. Margrith Baumann lebt mit ihrem Mann und den drei Kindern dazwischen, in Fürlaui. Ihr Haus, sauber und grosszügig, steht direkt an der Strasse. Die endet oft nicht in Wassen, sondern im Schnee. «Im Winter 2011/12 waren die Kinder zwischen Samichlaus und Ostern kaum eine komplette Woche in der Schule», sagt Margrith Baumann. Sie hat versucht, das Unterrichten zu übernehmen. «Aber in Sprachen bin ich nicht gut.»

Kristin T. Schnider muss sich auch in die Unterlagen zur Strasse ins Meiental hineinknien. Die Entscheidung, keine wintersichere Strasse zu bauen, sondern im Winter Helikopter einzusetzen, muss nochmal diskutiert werden, findet Schnider. 1860 lebten 445 Einwohner im Tal, heute sind es nur 60. Dabei ist das Meiental doch ein beschauliches Tal, perfekt für Wanderungen und Skitouren. Oder?

Margrith Baumanns Tochter Manuela besucht die vierte Klasse. Das Schulhaus wurde 1902 erbaut aus Wassner Granit, als die Industrie noch rund 300 Menschen Arbeit bot und der Stein sogar als Sockel des Denkmals für den philippinischen Freiheitshelden José Rizal in Manila diente. In dem grauen Gebäude werden die 3. und 4. Klasse der Kreisschule Urner Oberland unterrichtet. Einen Kindergarten gibt es nur noch in Göschenen, in Wassen dafür zwei Altersheime. Die beiden ersten Klassen sind in Göschenen, die Schüler der 5. und 6. müssen nach Gurtnellen fahren.

Die Lösung habe zehn Jahre gut funktioniert, sagt Lehrerin Emmy Gerig, Leiterin der 4. Klasse. Aber die Zahl der Kinder sinkt weiter, von Zwergklassen wird geredet. Eine neue Umstrukturierung soll helfen, das Problem zu lösen.

Ziege lernt, auf Hinterbeinen zu gehen

In Gerigs 4. Klasse lernen sieben Schüler aus Wassen – drei davon aus dem Meiental –, drei aus Göschenen, fünf aus Gurtnellen. Sie grübeln über den Bremer Stadtmusikanten, deren Geschichte sie mit Adjektiven anreichern sollen. Da tut Abwechslung gut. Eifrig beantworten die Kinder die Fragen der Journalistin. Alle verbringen ihre Freizeit draussen (jedenfalls, wenn sie Fernsehen oder Computer verschweigen) mit Ski- oder Bobfahren, ein Mädchen bringt seiner Ziege bei, auf Hinterbeinen zu gehen. Ein Bub fährt Velo in Göschenen, das seit Jahren eine Umfahrungsstrasse hat. Sind die Wassener Eltern ängstlich, wenn ihre Kinder auf der Strasse spielen? Manuela meldet sich, Margrith Baumanns Tochter aus dem Meiental. «Ja», sagt sie, «im Sommer rasen die Töffs so schnell zum Sustenpass.»

Das neue Holz und die Säbel der Offiziere

Wassens Blütezeit lag in der Hochzeit des Verkehrs. Als der durch den Ortskern zog, erst mit Kutschen, dann mit Autos, hielten viele Touristen an. Das 300-jährige Bogenhaus am Ende des Dorfplatzes wurde 1965 abgerissen, weil die Busse nicht mehr untendurch passten. Eine Schmiede musste 1938 der Sustenpassstrasse weichen. 1980 bringt die Autobahn mehr Ruhe, aber weniger Touristen.

Einkehr an der Dorfstrasse im Hotel Hirschen bei den Baumann-Schwestern. Helene ist 77, Regine 76 Jahre alt. Regine erinnert sich, wie die Eltern «zwei Wochen vor dem Zweiten Weltkrieg» das Restaurant umgebaut haben und wie die Säbel der Offiziere Scharten ins neue Holz schnitten. «Da war ich noch ein kleines Mädchen», sagt sie und lächelt fein. Namen fliegen durch die Luft. Cardinal. Susten. Gamma. Rothaus. Hotels, die es gab, als man noch hielt in Wassen. 15 sollen es gewesen sein. Heute sind es noch vier, dazu eines, das nur im Sommer geöffnet hat, und ein Backpacker-Hostel von Mai bis September.

«Stau ist gut für uns», sagt Damian Fry. Der Hospentaler führt mit seiner Frau Rita-Maria Wiesli das Hotel Krone, die beste Adresse am Ort. Vorne, im Beizli, trifft sich der Stammtisch. Im hinteren Raum edle Stoffservietten, eine Karte mit stolzen Preisen und grossen Ambitionen. «A la fine boûche» nannte Fry das Restaurant, als er das Haus vor einem Jahr übernahm. Fry, der viel bei Jacky Donatz im Fifa-Restaurant Sonnenberg gelernt hat, schickt ein kleines Lammkotelett als «Gruss aus der Küche» und serviert «würzige Fisch- und Meeresfrüchte-Consommé» unter einer Blätterteighaube, wie Bocuse es zu tun pflegt. Vielleicht spricht er ein bisschen von sich selbst, wenn er den Neat-Tunnel als «Pionierleistung der Schweizer» preist und sagt, dass «Reisen Tempo braucht». Er strotzt sogar noch vor Energie, wenn er völlig verschwitzt aus der Küche auftaucht.

Weit genug von Andermatt und doch nah

Nur seiner Frau Rita-Maria, gebürtige Appenzellerin, gelingt es, ihn zu stoppen: «Lass mich erzählen, wie die Bundespräsidentin bei uns im Restaurant war.» Rita ist klein, 23 Jahre jung und hat den offensten Blick des ganzen Reusstals. Nein, Appenzell fehle ihr nicht, Wassen ist «klein und heimelig», das Geschäft läuft. Wenn Stau ist, müssen die Autos ständig anfahren, auf dem steilsten Stück der ganzen Gotthardstrecke. Das macht acht bis zehn neue Kupplungen in der Woche und acht bis zehn Autos voller spontaner Hotelgäste. Das macht auch Menschen, die genervt entscheiden, sich erst morgen früh wieder in die Blechschlangen einzureihen – und heute erstmal gut zu essen. Dazu die Gäste, die dem teuren Andermatt ausweichen, aber in zehn Minuten die dortigen Angebote nutzen wollen.

Zugreisende im Neat-Tunnel werden das «Chileli vo Wasse» nicht mehr sehen. 2030 soll, so Volk will, die zweite Autobahnröhre gebaut und die erste saniert sein. Dann fliesst der Verkehr ohne Stau durch den Gotthard. In Stosszeiten vierspurig, wie die Kantonsregierung befürchtet. «Dann sind wir hier oben abgehängt », sagt Gemeindepräsidentin Schnider. «Und wer weiss, wie oft die Züge noch bis Erstfeld fahren? Dann hört Uri doch beim Brüggli von Schattdorf auf.»