Porträt Theater Neumarkt

Theater heute Januar 2022

Begeisterung über das eigene Tun: Das Zürcher Kleintheater wagt wieder einmal ein neues Modell: Hayat Erdogan, Tine Milz und Julia Reichert teilen sich die Ministerien

Seit zwei Jahren will das Neumarkt kein Theater mehr sein. Jedenfalls nicht im Namen. Nur noch «Neumarkt», bitte. Als «kleinstes Dreispartenhaus der Schweiz» hat das Direktorinnen-Trio Hayat Erdogan, Tine Milz und Julia Reichert dem Theater die Sparten Playground und Akademie beiseitegestellt, jüngst erweitert um das coronabedingt liebgewonnene Digital. Während Akademie vortrags- und workshopartige Podien umfasst, steht Playground laut Selbstbeschreibung für «künstlerisches Experiment, spielerische Interventionen» und «Praxen der Kunstproduktion jenseits der eingespielten Räume und Routinen». 

Das klingt theoretisch alles neu und modern, kommt einem praktisch aber dann doch bekannt vor. Der Playground-Vertreter «Mimikry: Mater Dolorosa Bleed» etwa ist Mitmachtheater der alten und partizipativ-immersives Theater der neuen Art. Da wird sich im Kreis gestellt, werden Hocker hin- und hergetragen und zu Klatsch- und Fangspielen animiert. Drumherum gibt es Unterrichtsstunden, pardon: Classes. Schulhofatmosphäre total also, dicke Pausenbrote inklusive. 

Denn das Gedankenspiel der Performancegruppe The Agency in Kooperation mit dem Neumarkt ist dieses: Das Publikum ist angetreten als Noviz:innen der Mater-Dolorosa-Schule. Die ist Nachfolgerin der Höhe – ren Töchterschule, die sich mal im Haus des Theaters Neumarkt befunden haben soll. Alle Neulinge bekommen einen weißen Umhang, ein blaues Bändchen mit Namen – wir fühlen uns wie neugeboren – und gute Ratschläge: «In den verschiedenen Classes geht es um Themen wie Geburt, Mutter und Milch. Aber auch um Abtreibung und Blut. Wenn Sie das nicht wollen, müssen Sie es sagen.» 

Dann ist Vollversammlung im Kirchenraum; Schauspieler:innen und Zuschauer:innen sitzen gemischt vor Mutter Oberin. Sie ist eine der «m_others» (gesprochen «em others») und tritt auf wie die Jungfrau Maria, die auch im Stil alter Kirchenfenster als Glasgemälde von der Wand strahlt – allerdings mit entblößter Scheide und Dolchen im Körper. Die Schule habe ein Problem, erklärt die Oberin entrüstet. Es seien Schwangerschaften festgestellt worden. Die Schülerinnen outen sich, eine nach der anderen. Sie sind alle schwanger. 

Jetzt wird das Publikum zum Unterricht gebeten. Es erfährt von Yana Thönnes, wie eine Abtreibung samt vorhergehender «Zwangsberatungsscheiße» abläuft und wie man sich verhalten sollte. Motto: «Immer nett bleiben, immer freundlich nicken.» Challenge Gumbodete erklärt in einer anderen Class, wie das läuft mit der Milch. Sein Träger-Spitzenkleid lässt dabei durchblicken, wie die aus der schwarzen Brust in eine Nuckelflasche tropft. Das ist alles ziemlich bizarr und schräg; dient aber letztlich als verlängertes Vorspiel für die eigentliche Frage, die da lautet: Wäre es nicht besser, Frauen für ihre Arbeit der Schwangerschaft zu bezahlen? 

Yara Bou Nassar kommt frisch aus einer indischen Leihmutterklinik und präsentiert ihren dicken Bauch. Dort würden die Frauen umhegt und umpflegt und halbwegs ordentlich bezahlt, wenn sie das Kind anderer Eltern, egal welchen Geschlechts, austragen. Nassar, eine libanesische Darstellerin, die nur Englisch spricht, berichtet begeistert von selbstbestimmten Frauen, von «Pregnancy as an extreme sport», von Maria als «der ersten Leihmutter der Geschichte». Muss das altgediente Modell von Schwangerschaft nach Liebe da einpacken? Aber hat es nicht ohnehin ausgedient, nach all den Vergewaltigungen, den Missbräuchen, den Ausbeutungen der Frauengeschichte? Könnte das neue Modell nicht gleich auch noch alle Probleme gleichgeschlechtlicher oder queerer Partner:innen lösen?  

«Innen-, Außen- und Propagandaministerium»

Mangelnde Radikalität kann man der Arbeit nicht vorwerfen, auch der geistige Überbau lässt an Anspruch nichts zu wünschen übrig. Feminismus, Rassismus, Diversität, alternative Lebensangebote – alles da. Zwar mag nicht jeder gerne auf Stühlchen hocken, Schüler:in spielen und sich animieren lassen, doch ziehen die Akteur:innen die Verwandlung des Saales in eine andere Lebenswirklichkeit stringent und glaubhaft durch. 

Das Neumarkt in der Zürcher Altstadt liegt inhaltlich und geografisch in der Mitte zwischen dem Schauspielhaus und der Gessnerallee, dem Produktionshaus für die Freie Szene. Alle drei Häuser werden derzeit von Kollektiven geleitet; das männliche Duo Nicolas Stemann und Benjamin von Blomberg residiert im Schauspielhaus, weibliche Trios an den anderen beiden Häusern – Michelle Akanji, Rabea Grand und Juliane Hahn an der Gessnerallee. Die Neumarkt-Frauen, deren Wege sich an der Zürcher Hochschule der Künste kreuzten, haben sich die Auf ga – ben aufgeteilt: Während Budget, Personal und Programm von allen gemeinsam beackert werde, hat Reichert das «Innenministerium» (Selbstbeschreibung) mit innerer Kommunikation und betrieblichen Abläufen inne, Milz das «Außenministerium» mit Kooperation und Drittmitteln und Erdogan das «Propagandaministerium» mit Kommunikation und Marketing übernommen. Funktioniert das? «Oft» ist die beredte Antwort. (Mit dem NS-Begriff «Propagandaministerium» ginge man in Deutschland wohl etwas vorsichtiger um.)  

„Das Neumarkt ist ein Ort, an dem leidenschaftlich liebevolles Streiten in einem inszenierten Denkraum möglich ist, international gedacht, aber lokal verankert», formuliert Tine Milz formvollendet. Das Neumarkt, sagt Julia Reichert, sei ein «kleines, schnelles Haus fürs Experiment mit stadttheater-ähnlichen Strukturen» inklusive siebenköpfigem Ensemble und Werkstätten. Klein, aber fein. Die Schlosserei zum Beispiel heißt Cristiano und arbeitet mit einem 80-Prozent-Pensum. Die räumlichen Proportionen sind schwierig, jedes Bühnenbild muss nicht sehr breite Treppen hinauf- und wieder hinuntergetragen werden können. Und zwei Wochen im Jahr gehört alles den Männern von der Zunft Hottingen, mit der das Neumarkt quasi in einer WG wohnt. Wenn die Zunft tagt, muss das Theater alle seine Spuren beseitigen. 

Der Auftrag an das Haus ist klar; das «künstlerische Experiment» und die «institutionelle Selbstbefragung» stehen im Vertrag, der gerade bis Sommer 2025 und damit auf das Maximum von sechs Spielzeiten verlängert wurde. Die «institutionelle Selbstbefragung» resultiert etwa in einem, nach eigener Aussage, kollektiven und kollaborativen Arbeitsstil, transparenten Gagen, die sich baukastenförmig zusammensetzen und berücksichtigen, wie «auktorial» die Arbeit war und wie viel Probenzeit geleistet wurde. Und sie zeigt sich in einem Ticket-Wahlpreissystem, das die Wahl lässt, 15, 30 oder 45 Franken zu bezahlen, bei einigen Veranstaltungen sind auch kleinere Schritte möglich. 

Man sei, so die einhellige Direktorinnen-Meinung, mit allem auf gutem Weg gewesen, als das Haus Mitte März 2020 coronabedingt schließen musste; erst mit Beginn der Spielzeit 2021/22 ist – nach einigen Zwischenschritten und vielen Hin und Hers – wieder eine Auslastung von 100 Prozent erlaubt. Für das Ensemble war es da schwierig, zu einer Einheit zusammenzuwachsen. Die Umstellung auf digitale Formate habe aber sehr erleichtert, dass man viel mit Künstler:innen zusammenspanne, die digital oder mit Videos arbeiten oder als Aktivist:innen die digitalen Kanäle beherrschen. 

Jede Menge Überbau 

Es sei gelungen, neue Publikumssegmente zu erreichen, sich in der Szene zu vernetzen und einen «Ort der Zeitgenoss:innenschaft» zu etablieren. «Die Spartengründung hat die Möglichkeit dessen, was Theater sein kann, sehr erweitert», sagt Julia Reichert. Lediglich am Außenauftritt habe man noch feilen müssen, man sei jetzt «weniger überbaulastig», wie Hayat Erdogan sagt. Das war, mit Verlaub, auch dringend nötig. Zu Beginn wuchs der gedankliche Überbau derart in den Himmel, dass der Spielplan wirkte wie eine Ansammlung diverser Soziologie- und Theaterwissenschaft- Proseminare. Die konkrete Frage «Was erwartet mich da» verlor sich in politisch korrekten, aber nebulösen Ankündigungen. Da ist jetzt vieles konkreter, aber noch immer Luft nach oben. 

Als «internationales Rewrite mit Yellow Butterflies und Sailor Moon» geht «Madama Buttefly» über die Bühne. Per Zoom hat Satoko Ichihara ihre Version des Opernstoffes von «Madame Butterfly» in Zürich inszeniert. Was macht eine 33-jährige japanische Regisseurin und Autorin aus dem Stoff, in dem sich eine Geisha in einen amerikanischen Soldaten verliebt, drei Jahre sehnsüchtig auf ihn wartet und sich das Leben nimmt, als er mit seiner amerikanischen Ehefrau vor ihr und dem gemeinsamen Sohn steht? Ein riesig projizierter Werbefilm propagiert das vorherrschende Frauenideal mit großen Augen und heller Haut. Im Gespräch mit Avatar-Freundinnen wird Butterfly (Kyoko Takenaka) klar, dass ein Kind mit einem amerikanischen Soldaten Abhilfe schaffen kann. Denn das Ergebnis wäre ein sogenannter «Haifu», eine Verballhornung von «half», einem halb japanischen, halb ausländischen Kind. Mit großen Augen und heller Haut – voilà! 

Der Deal mit dem «Gaijan», dem Amerikaner, ist schnell beschlossen, der Akt ebenso schnell und sehr brutal im teuren Hotelzimmer vollzogen. Doch plötzlich entspinnt sich im englisch-japanisch-deutschen Sprachenmischmasch eine Diskussion zwischen der Japanerin Kyoko Takenaka und den Neumarkt-Spieler:innen Yan Balistoy, Brandy Butler und Sascha Ö. Soydan. Darf die türkischstämmige Schauspielerin den amerikanischen Soldaten in Japan geben? Die amerikanischstämmige vor Fujijama- und Kirschbaumkulisse die japanische Regisseurin? Der Schauspieler mit indonesisch-philippinischen Eltern den «haifu»-Sohn?

Die Szene spielt mit Klischees und den zahlreichen Fettnäpfchen, die die aktuellen Diskussionen bereithalten. Das ist gekonnt gemacht und tröstet über den arg theoretischen Rest des Abends hinweg, der zuweilen monolog-lastig daherkommt – Gespräche mit Avataren wirken eben auf Dauer auch wie Monologe. Am Schluss wird sich die Geisha-Mutter wie ihr Vorbild umbringen. Allerdings zerbricht sie nicht an der Liebe, sondern an der schwierigen Position in einer Gesellschaft, die zwar den schönen Sohn vergöttert, aber die Mutter, die ihn auf die Welt brachte, nicht überleben lässt. 

Im nicht mehr so ewigen Eis 

Wer Inszenierungen vergleicht, sieht Gemeinsames in der Spielzeitplanung. Sieht aktuelle Themen mit modernen Mitteln behandelt, sieht ein motiviertes Ensemble, einen weiten Blick in das eigene und in fremde Länder. Sieht aber auch Mängel in der Ausführung, die mit konsequenteren, mutigeren dramaturgischen Eingriffen behoben werden könnten. Es scheint fast, als schwemme die Begeisterung über das eigene Tun die kritische Selbstschau hinweg.

Das zeigt sich auch in «Gletscher-Requiem». Punktgenauer kann eine Premiere nicht landen: Während in Glasgow auf der COP 26 die Welt verhandelt, ob sie den Klimawandel stoppen möchte oder lieber nicht, nimmt Franz-Xaver Mayr Abschied vom nicht mehr so ewigen Eis. Doch der wutschnaubende Eingangsmonolog von Sascha Ö. Soydan nimmt schon alles vorweg, was noch kommen wird – und lässt die Spannung so auf ein Minimum sinken. Daran können auch Jodelgesänge und volkstümliche Tänze nur wenig ändern. Wieder reiht sich Monolog an Monolog, Textungetüm an Textungetüm. Eines intelligenter als das andere, aber alle mit derselben Aussage: Die Zeit der Gletscher ist vorbei, und wir Menschen wollen einfach nicht verstehen, dass uns das mehr kosten wird als Arbeitsstellen.

Da fantasiert die Skifahrerin (Elisa Plüss als Gast) vom Zukunftstraining im Berginnern, hechtet die Wissenschaftlerin (Soydan) durch die Eismassen auf der Suche nach dem perfekten Bohrkern und Jakob Leo Stark durch das Alphabet der Schweizer Berggipfel – von A wie Adlerhorn bis W wie Wyssnolle, mit 313 Spitzen dazwischen. Und da preist der Ökonom (Maximilian Kraus) die Alpen als Entertainmentpark. Und Yara Bou Nasser erklärt mit perfekt-imitiertem Tourguide-Tonfall die Vorgänge in diesem unbekannten Draußen: «Nature is constantly at work.» Davor, dazwischen, drumherum und oft genug darüber hinweg webt «Klangkünstlerin und Multiinstrumentalistin» Martina Berther ihre elektronischen Geräuschteppiche.

Einmal tauchen die Akteure in kunterbunten, dickwattierten Anzügen auf, angesiedelt irgendwo zwischen Schlafsack und Skianzug. Die Kapuzen lassen nur ein kleines Rund zwischen Nase und Mund frei, den sie äußerst effektvoll und komisch zu blubbernden Fischmäulern verformen. Nach Effekten wie diesem greift der Zuschauer begierig, ist doch sonst viel zu viel auf der immer an maximal grenzenden Erregungsstufe angesiedelt. Klar, der Zustand der Welt ist Katastrophe, aber das setzt doch nicht die Theatergesetze außer Kraft, die immer noch besagen, dass ein Abend von Wechsel in Tonfall und Stimmung leben muss, wenn er nicht langweilig werden soll. Keine komplett vertane Chance, aber ein Abend, der mehr hätte sein können als er geworden ist. Leider gilt das derzeit noch für zu viele Termine am Neumarkt.