Theater heute, Februar 2022
Doppelrezension: «Verlorene Illusionen» nach Balzac und «Ulysses» nach Joyce am Theater Basel
Martin Laberenz baut die Kritik an seinen «Verlorenen Illusionen» nach Balzac am Theater Basel gleich in den Text ein. «Das soll nicht so skizzenhaft bleiben», lässt er Julian Anatol Schneider nach der Pause sagen. Bis dahin hat die Inszenierung tatsächlich reichlich skizzenhaft das Leben des Lucien de Rubempré nachgezeichnet, der in Paris Dichter werden will. Und Schneider formuliert auch die Quintessenz des Abends: «Es geht nicht um Kunst oder Ruhm, sondern um Geld, Geld, Geld.»
In der Balzacschen Welt zwischen Ancien Régime und Kapitalismus bekommt den Ruhm nicht, wer gute Manuskripte abliefert, sondern wer die richtigen Leute schmiert und die anderen aus der Bahn wirft. Balzac selbst schaffte es nur mit Tausenden Tassen Kaffee, Fortsetzungsromane für Zeitungen zu schreiben, die ihm mehr schlecht als recht ein Auskommen sicherten. Wild und verzweifelt versucht Annika Meiers Lucien, ihren Roman samt Lyrikabend an das Publikum zu versteigern – und scheitert kläglich, aber sehenswert. Viele Illusionen muss dieser Lucien trotzdem nicht verlieren, er schreckt nur kurz davor zurück, erlittenes Unrecht gnadenlos zu rächen.
Laberenz und sein Dramaturg Kris Merken dampfen das fast tausendseitige Werk, das zum Zyklus der «Menschlichen Komödie» gehört, so ein, dass es zwar wirklich skizzenhaft, aber verständlich und rasant, mit gutem Gespür für Tempo und retardierende Momente über die Bühne mit dem Riesenspielplatz voller Klettergerüste geht (Bühne Aino Laberenz und Marie Sturminger).
Am Ende ist Lucien so pleite, dass er sich umbringen will. Diese Gedanken zum Selbstmord stellt Laberenz an den Anfang und den Schluss und streut sie zudem wie ein wiederkehrendes Motiv mehrfach in den Text. Doch spricht sie jedes Mal ein anderer, denn fast alle übernehmen mal die Rolle des Lucien. Birte Schnöink, Peter Knaack, Marie Löcker, Meier und Schneider dürfen singen, improvisieren, kalauern, Sätze in Endlosschleifen schicken und keinen dummen Witz auslassen. Das ist manchmal gekonnt, manchmal komisch und manchmal nervig. Aber vor allem Meier, Schnöink und Knaack steigern sich so furios in ihre Szenen, dass man manches Zuviel verzeiht.
Eine Augenweide Aino Laberenz’ Kostüme: erst historisierend mit Schnabelschuhen und Bundhosen, dann ein Schwelgen in Spitze und Tüll, immer moderner, immer ausgeflippter. Birte Schnöink etwa ist ein mit schwarzer Spitze besetzter, pseudospanisch-lispelnder Torero und später die Provinzschauspielerin Cordelia mit Moulin-Rouge-artigem Federschmuck auf dem Kopf, den sie pfauenstolz spazierenträgt. Kurz vor Ende tanzen sie sich endlos, aber bis zum Schluss synchron die Seele aus dem Leib. Danach hat sie der Gedanke an Selbstmord wieder. Trinken wir noch was, essen wir noch was? Alles alle! Dann eine letzte Zigarette! Doch auch die Zigarettenschachtel ist leer. Nach diesem Befund kann in einer Martin-Laberenz-Inszenierung nur noch das Licht ausgehen.
Baustelle «Ulysses»
Ebenfalls rasant auch die Baseler Fassung von «Ulysses». John Collins, der mit seiner Truppe «Elevator Repair Service» etwa «The Great Gatsby» als Acht-Stunden-Fassung inszenierte, zeigt James Joyces Monsterroman «im Schnelldurchlauf». Auf einen Wink der Darsteller hin rauscht der englische Originaltext im Fast-Forward-Modus über die Monitore und die Rückwand der Bühne. Dazwischen spielen fünf Akteure von jeder der 18 Episoden kaum mehr als ein, zwei Seiten.
Aber wer «Ulysses» zeigen will, muss ja ohnehin Mut zur Lücke beweisen. «Der Roman enthält so viele Rätsel, dass sich Professoren über Jahrhunderte darüber streiten werden, was ich damit gemeint habe», hat Joyce gesagt – und es scheint, als sitze er während der ganzen Aufführung in der Ecke, allen die lange Nase zeigend. Oder steht er auf der Bühne? Fabian Krüger, der einen Haufen Nebenrollen wegschafft, sieht ihm mit seinen dunklen Haaren, dem schmalen Gesicht und der Nickelbrille zum Verwechseln ähnlich. Auch er grinst über weite Strecken ironisch.
Fünf Akteure, ein Tausendseiten-Roman, 120 Minuten. Was bleibt da übrig? Der Eindruck, ein verrücktes Werk zu sehen. Eines, in dem jedes Kapitel anders formuliert ist, in dem der Autor alle Grenzen sprengen will, um die disparate Moderne in der Literatur abzubilden. Eines, in dem Gedanken Purzelbäume schlagen und doch einen Sinn ergeben. Man schaut einem Menschen einen Tag lang beim Leben zu. Mit der ganzen Palette zwischen gelehrten Shakespeare- Abhandlungen und Stuhlgang. Eine Beerdigung, eine Geburt, Ehebruch, Kampf. Diskussionen – gescheit, weniger gescheit, nüchtern oder besoffen geführt. Ein Frühstück, ein Mittagessen, eine Pinkelei, überhaupt viel Körperlichkeit. Ein Besuch in einem zweifelhaften Etablissement, wilde Visionen nach Verführung inklusive.
Und natürlich: Mollys Monolog
Und in der Nacht, natürlich, Mollys Monolog. Über den Tag hinweg darf Leopold Blooms Ehefrau nicht viel sagen, in der Nacht redet sie ohne Punkt und Komma und lässt bei unzähligen Zigaretten und viel Rotwein tief blicken. In die Seele einer selbstbewussten, desillusionierten, abgeklärten Frau, erstaunlich heutig. Von Carina Braunschmidt kongenial gesprochen, schnodderig, ungeheuer liebenswert. Ein Höhepunkt.
Und es bleibt der Eindruck, einem Team bei der Inszenierungsarbeit zuzuschauen. Sie wollen ein alle Dimensionen sprengendes Werk – trotz allem! – auf die Bühne wuchten. Sie beginnen vorsichtig, tastend, stolpern über Fremdwörter, malen Tafeln, um die Ebenen zu erfassen. Werden mutiger, kecker. Bis sie es am Ende in Richtung Slapstick übertreiben und den Worten die Tragik austreiben, bis kein Ernst mehr bleibt.
Vier Arbeitskojen hintereinander hat David Zinn auf die Bühne gebaut, die etwas erhöht auf Stelzen stehen. Davor Platz, etwa für einen überladenen Mittagstisch. Genug Spielraum für fünf Akteure, die Zinn in beinahe monochrome Kostüme kleidet. Andrea Bettini gibt einen gemütlichen, fast phlegmatischen Leopold Bloom, Fabian Dämmich einen sehr jungen, ein wenig unsicheren Stephen Dedalus. Carina Braunschmidt ist Molly und übernimmt mit Nairi Hadodo und Fabian Krüger die zahlreichen Nebenfiguren. Hadodo verleiht ihnen eine eher strenge Aura, Fabian Krüger liebt den Slapstick, vor allem er schlägt zu selten ernste Töne an. Aber am Ende fragt man sich: Warum das alles? Er habe nur Teile des Werkes gekannt als er sich entschied, es zu inszenieren, sagt Collins im Programmheft. Man spürt, dass dem Abend der grundlegende Impetus fehlt.