Theater heute, Juli 2022
Theater Basel: Sebastian Nübling und Boris Nikitin veranstalten mit «Dämonen» eine Tour durchs nächtliche Basel, Sahar Rahimi entlarvt in der Uraufführung von Anne Haugs «MILF» das Klischeebild der lieben Familie
Sie sind 12 Sekunden voraus. So lange dauert es, bis das Signal unterm Atlantik, in den amerikanischen Serverpark geleitet, wieder zurückgeschickt wird und per Internet auf der großen Leinwand im Schauspielhaus Basel landet. Kaum hat Elif Karci das klargemacht, geht sie forschen Schrittes aus dem Theater, die Kamera hinter ihr her. Es wird drei Stunden und 35 Minuten dauern, bis sie wieder zurück ist. In dieser Zeit jagt sie mit einer Gruppe junger Schauspieler durch die Stadt, über den Bahnsteig, zum Bahnhof, über die Rheinbrücke nach Kleinbasel, über eine andere Brücke zurück, in die Altstadt und schließlich zur Paulus-Kirche, um am Ende wieder im Schauspielhaus zu landen. Immer gefolgt von der Kamera, die Bilder auf die Leinwand sendet.
Es ist eine Parforcetour für sieben Schauspieler: innen – vier aktuelle Mitglieder der Jungen Bühne Basel, mit Sven Schelker und Julian Anatol Schneider zwei ehemalige, die jetzt zum Ensemble des Schauspielhauses gehören, und Dominic Hartmann, der schon mehrfach mit Nüb ing arbeitete. Es ist eine Gruppe voller Energie, die etwas mitzuteilen hat. Es geht um Leben und Tod, Schmerz und Verlust, um die Realität, ihre Wahrnehmung, um Erinnerungen, um die Welt als Wille und Vorstellung und Fake.
Schauspieler:innen als Co-Autor:innen
Aber erst einmal sagen sie 22 Minuten kein Wort. Sie laufen nur. Erst Elif Karci allein, dann kommt Lukas Stäuble dazu, noch eine, noch einer. Sie gehen schnell und bestimmt, die Kamera, virtuos geführt von Robin Nidecker und Assistent Jelin Nichele, folgt ihnen wie ein Stalker. Nach einer perfekten Choreografie tauchen sie auf und verschwinden, werden heran- und weggezoomt und auch mal umkreist. Dann erzählt Ann Mayer von ihrer Magersucht, Elif Karci, dass die Mutter sie abtreiben wollte, Sven Schelker von dem Freund, dessen Unfalltod auf dem Fahrrad er sah, ohne zu wissen, wer da betroffen ist. Alles auf Schweizerdeutsch; sie werden neben den Regisseuren und Ideengebern Sebastian Nübling und Boris Nikitin auch als Textautoren genannt. Da spricht Dominic Hartmann vom Aufwachsen auf dem Land, mit großem Hof, alten Kirschbäumen und enger Gemeinschaft. Erst in der Stadt kann er seine Homosexualität ausleben, die ihn von den anderen trennt. Dennoch wird er in den Schützenverein gehen und rechtskonservative SVP-Meinungen vertreten, weil er dazugehören möchte. Die Kirschbäume vermisst er heute noch.
Es sind Wort- und Gedankenfetzen, die ein großes Ganzes ergeben. Das Tempo ist hoch; immer wieder überraschend, wie genau festgelegt ist, wer wo steht, geht, wann spricht, wann schweigt. Die Beats sind laut und rastlos, den Grundton formt «Imagine a box» von Underworld, der Gesang von Karl Hyde lässt «fairy tale summers» auferstehen und bittet immer wieder «leave the light on». Es ist dieser Wunsch, dazuzugehören, jemanden zu haben, der auf einen wartet, mit dem die jungen Schauspieler: innen durch die Nacht, durch die Stadt jagen. Und der Bruch zwischen ihnen und der Welt, der sie immer wieder verzweifeln lässt.
Sie haben keine Angst vor großen Gefühlen, vor großen Fragen, nach dem Gestern, dem Heute, dem Morgen. Keine Angst vor großen Gesten, wenn sie feststellen, dass die ganze Stadt ihre Bühne werden kann. Der «Burger King» etwa wird zum Predigtplatz von Ann Mayer über «Failure as a Lifestyle», ein Rondell im Parkhaus in Beschlag genommen. Überraschend fast zum Schluss der Altar der Kulturkirche Paulus, der aus dem Dunkel erstrahlt wie eine Erscheinung. Sie nehmen die Stadt in Besitz, während sie verzweifelt versuchen, Herr über ihr Leben zu werden.
Jagd nach dem Kick
Nach etwa zwei Stunden und einer Jagd per Elektroroller tanken sie Kraft, Trauben und Getränke in einer Wohnung, in der sie sich in die titelgebenden Dämonen verwandeln. Waren sie vorher alle unauffällig, aber im vorherrschenden Schwarz-Weiß-Film sinnfällig in Schwarz gekleidet, ziehen sie jetzt wie wildgewordene schwarz-weiß-gemusterte Harlekine durch die Gegend, Elisa Dillier im Skelettkostüm, Dominic Hartmann im strahlend-weißen Spitzenkleid, alle mit Masken, die ihre Gesichter radikal altern lassen. Jetzt sind in diesem modernen Basler Totentanz endgültig die Teufel los – so wütend schlagen sie auf Plakate ein, tanzen sie auf Elektrokästen, in Hauseingängen und Haltestellen, fiebrig, gehetzt, auf der Jagd nach dem Glück oder wenigstens dem Kick. Dann wieder erstarren sie, in verzerrten Posen wie moderne Varianten von Rodins Bürgern von Calais.
Es hat durchaus etwas Arrogantes, wie sie da von «meiner Welt» berichten, in der jeder sagen darf, was er will, solange er ihrer Meinung ist. Es wird am Ende auch ein wenig sehr apologetisch, wenn sie Passanten befragen und beschimpfen, ihnen erklären «Wir leben alle in einer Illusion» oder «Du hast keine Vision», und dann doch immer wieder beschwichtigen: «Es ist okay.» Ist es das wirklich?
Man kann einzelne Details, vielleicht ein paar Längen bekritteln. Aber man muss un – umwunden zugestehen, dass eine Intensität und ein Einfallsreichtum von der Leinwand ins Theater schwappen, wie man sie lange nicht gesehen und gefühlt hat. Ein Film, beinahe coronakonform. Und doch von schmerzhafter Körperlichkeit und Nähe.
Blut aus der Steckdose
Auch in Anne Haugs «MILF» hat die Realität Risse, durch die Bedrohliches einsickert. Die drei kleinen blonden Mädchen in hellblauen Kleidchen können noch so allerliebst im Schönheitswettbewerb als Ballerinas posieren und die Mutter daneben beim Lächeln Zähne zeigen. Es ist doch alles zu viel und zu süß, um Abbild des Familienlebens zu sein. Schon den nächsten Black zwischen den Szenen füllt Musikerin Franziska Ameli Schuster aka Ameli Paul mit so schrägen, lauten, zerrenden Sounds, dass wir wissen: Hier stinkt doch was.
Die Welt in «MILF», das unter der Regie von Sahar Rahimi im Kleinen Haus des Theaters Basel uraufgeführt wurde, ist zwar schön und clean, aber gehörig aus den Fugen. Die Kinder erinnern an Stanley Kubricks «Shining», zudem gehen sie mit Doppelgängerinnen-Puppen ins riesige Himmelbett, die auch noch blinzelnde Bildschirmaugen haben wie in John Carpenters Horrorfilm «Das Dorf der Verdamm – ten». Auch wer die Anspielungen nicht erkennt, sieht und spürt den kommenden Schrecken.
Er manifestiert sich in Form von Kat, der Verflossenen der Ehefrau. Vor 22 Jahren hatte Tamara Kat verlassen, weil sie den gemein – samen Schulfreund Dominik ehelichen und Kinder kriegen wollte. Die hat sie jetzt, mitsamt täglichem Nudelauflauf und Schönheitswettbewerb, den sie als «Charity Organisation» ins Leben gerufen hat. Es nützt aber nichts: Die Liebe zu Kat, die Yevgenia Korolov in schwarzer Lederkluft, mit kurzem Pagenkopf und dickem Schwangerschaftsbauch gibt, ist – trotz 22-jähriger Pause – noch höchst lebendig. Und bricht schon beim zweiten Wiedersehen in wilden Sexszenen aus.
Es bricht an dem Abend ohnehin eine Menge aus. Es quillt Blut aus der Steckdose, die der geschniegelte Gatte mit dem Edelpulli wegwischt – der Schein muss gewahrt werden. Aus Ehegattin Tamara, die Marie Löcker immer dicht am Rande des Nervenzusammenbruchs hält, bricht sich der Wahnsinn Bahn, als sie eine der Puppen aufschlitzt, um genüsslich die inneliegenden Gedärme zu lecken, zu schlecken und zu verspeisen. Irgendwann fällt die alte Freundin auch über den geschniegelten Ehemann (Edgar Eckert) her. Und der gebiert ein ganzes Beet von äußerst fleischigen Blumen.
Gruselige Idylle
Rahimi denkt in Fotos und Filmen, lässt den Vater mit den Kindern ins Kino gehen – und platziert ihn dafür mitten im Publikum, während auf einer Leinwand ein Disney-Trickfilm läuft. Plötzlich hebt der Vater an zu einer wüsten Beschimpfung, nennt Kat «Fotze» und Tamara «Hure», nur um sich dann immer trauriger und wütender über ihr Fremdgehen mit der Ex zu beklagen. Schließlich bricht aus ihm ein «Ich liebe dich doch» heraus.
Nein, «MILF» ist kein Spiel der feinen Momente, sondern eines der überspitzten Szenen, der überbordenden Gefühle, der Lust am grausamen Idyll und am idyllischen Grausen. Mit dem titelgebenden «MILF» ist die Richtung vorgegeben, dem Akronym aus «Mothers I’d like to fuck». Ein Begriff gleichzeitig aus der Pornoindustrie, mit älteren Frauen als Hauptdarstellerinnen, und dem Feminismus, wenn das Begehren dieser älteren Frauen zum Thema wird. So ist die Mother von Marie Löcker, obwohl hohl, stinkend und mit Scheiße unter den Fingern, wie ihre dann deutlich weniger süßen Kinder behaupten, höchst attraktiv und selbst voller Begehren.
Sahar Rahimi hat aus Haugs etwas unausgegorenem Werk ein sehr artifizielles Stück Theater gemacht. Es könnte Horrortheater sein, wäre es nicht so vorhersehbar. Es könnte komisch sein, wäre es nicht so bedeutungsschwanger ausgestellt. Und es könnte intelligent sein, wäre es nicht so disparat und letztlich undurchdacht. Am Ende zelebrieren sie die traute Dreisamkeit mit Fertigpizza und Dosenbier. Schluss mit Nudelauflauf, Schönheitswettbewerb und hohlen Gesprächen. Ach, wenn doch die Welt so einfach wär’.