NZZ am Sonntag, Kultur, 5. Januar 2020
In dieser Saison spielen alle grösseren Theater der Deutschschweiz einen antiken Stoff. Warum beschäftigen uns die alten Dichter genau jetzt?
It’s a mad world», es ist eine verrückte Welt, perlt das Klavier aus dem Lied von Tears for Fears über die Bühne. Es passt perfekt zu Milo Raus Inszenierung «Orest in Mossul», die um die ganze Welt tourte und auch am Schauspielhaus Zürich gastierte. Ausgehend von Aischylos’ Drama zeigt Rau, wie der Irak feststeckt in einer Endlosschleife von Krieg und Gewalt, Tod und Rache. Aischylos’ Tragödie wurde 458 vor Christus in Athen urauf- geführt; der Dramatiker bezog sich auf einen Mythos, der 750 Jahre alt war.
Warum nur wird der 3000 Jahre alte Stoff heute noch inszeniert? Und warum bringen in dieser Spielzeit alle grossen Theater der Deutschschweiz einen antiken Stoff auf die Bühne? – Wären heutige Stücke über aktuelle Themen nicht spannender?
Die Bandbreite der Inszenierungen antiker Werke ist gross. Sie reicht von Sibylle Bergs «In den Gärten oder Lysistrata 2», einer Fortschreibung von Aristophanes’ «Lysistrata» in Basel, bis zur relativ texttreuen Version von Sophokles’ «Antigone» am Theater Orchester Biel Solothurn (TOBS). Sibylle Berg nimmt den derben Komödienstoff von Aristophanes zum Sprungbrett für eine wütend-wilde Abrechnung mit den Geschlechtern. Der Mann ist abgeschafft; die Frauen erledigen jetzt alles selbst. Vom «pazifistischen Warnschrei», wie Theaterkritiker Georg Hensel das Werk nannte, ausgestossen nach zwanzig Jahren Peloponnesischem Krieg zwischen Athen und Sparta, bleibt ein satirischer Ruf nach Anerkennung, vom antiken Original kaum mehr als ein Motiv.
Sensibilität für Frauen
Am TOBS macht Regisseurin Deborah Epstein aus dem Sophokles-Text in der zeitgenössischen Übersetzung von Alfred S. Kessler ein konzentriertes Schauspieler- Theater. «Das Stück soll wehtun», sagt Epstein – und das tut es. Der Konflikt zwischen Antigone, die ihren toten Bruder begraben will, und Kreon, der ihr das verbietet, wird bis zum Äussersten ausgetragen. Alle wissen: Wenn Antigone die Leiche mit Erde bedeckt, riskiert sie ihr Leben.
Dazwischen die anderen Inszenierungen: Elmar Goerden bearbeitet in Bern Motive aus Homers «Odyssee», um in drei Teilen die Schicksale des irrfahrenden Vaters Odysseus, der wartenden Mutter Penelope und des vaterlos aufwachsenden Sohnes Telemach zu erzählen. Der Orest-Stoff wird gleich drei- mal verhandelt: Neben Milo Rau nutzt ihn auch die 27-jährige Regisseurin Sophia Aurich für Bern in einer Bearbeitung des Dramaturgen und Schriftstellers John von Düffel; Martin Pfaff erstellt für St. Gallen eine eigene Fassung. Wenn die Demokratie weltweit gefährdet ist, ist das «Stück über die Geburt der demokratischen Rechtsstaatlichkeit», wie es das St. Galler Spielzeitheft formuliert, das Werk der Stunde.
Als «Auseinandersetzung zwischen Pflicht, Gesetz und Gewissen» sieht Katharina Rupp, Schauspieldirektorin des TOBS, den «Antigone»-Stoff; er sei «sehr differenziert und hoch politisch» und entspreche dem wieder erwachten Wunsch nach ernsthaften Auseinandersetzungen. Die Zuschauer seien müde, alle Themen «post- dramatisch oder dekonstruktivistisch gebrochen» oder ironisch kommentiert präsentiert zu bekommen.
«Es gibt eine Rückbesinnung auf Stücke, in denen zwei Personen mit grosser Schärfe aufeinandertreffen und existenzielle Fragen verhandeln», sagt Rupp. Weil Antigone nicht nur wort- und argumentationsstark mit Kreon, sondern auch mit ihrer weniger mutigen Schwester Ismene diskutiert, hält das Stück auch noch gleich zwei starke Frauenfiguren bereit.
3200 Jahre alte Stoffe bieten moderne Themen und starke Frauenfiguren für das 21. Jahrhundert? Dem stimmt Ulrich Eigler, Professor für Klassische Philologie an der Universität Zürich, zu. «In der brutalen Männergesellschaft Griechenlands entstanden Stücke mit einer extremen Sensibilität für Frauen», sagt er und verweist auf Iphigenie, an deren Schicksal das Elend, aber auch die Möglichkeiten junger Frauen in militarisierten Männergesellschaften verhandelt würden. «Aber die Frauenrollen wurden damals natürlich alle von Männern gespielt.»
Eigler, der sich auch auf Antikenrezeption in Film und moderner Literatur spezialisiert hat, sieht viele Gründe für die Wiederauferstehung der alten Stoffe in modernen Inszenierungen. Zum einen drehen sie sich – im Gegenteil etwa zu den bürgerlichen Trauerspielen des 19. Jahrhunderts – im Kern um zeitlose Themen, die anders als die Werke zeitgenössischer Autoren ohne Skrupel oder Rücksicht auf Urheberrechte aus dem Text herausgeschält werden können. Ein so verblüffender wie zutreffender Befund: Aischylos, Sophokles und Euripides behandeln komplizierteste Familienverhältnisse, voller Mord und Totschlag, Ehebruch und Betrug über Generationen hinweg.
Zudem entstanden die Dramen in Kriegszeiten; die Themen Flucht, Migration, Rache, Vergeltung und Vergebung sind deshalb allgegenwärtig. Über vielen schwebt die Frage: Wie kann man dem ewigen Kreislauf aus Mord und Rache entkommen? Wie einen Schlussstrich ziehen, wenn einem unermessliches Leid widerfahren ist? Deshalb zog Milo Rau mit der Orestie ins Kriegsgebiet Irak, deshalb sind die Stoffe auch vor der Folie des Syrienkrieges oder des Nahostkonfliktes so aktuell.
Zudem seien sie, so Eigler, sprachlich von einer «unglaublichen Eindringlichkeit» und einer «brutalen Kürze. Da wird nichts beschönigt.» Dazu komme ein starkes, direktes Spiel der Figuren miteinander, das der Chor kommentiert. Der setze manche Figuren so in Szene, dass man sich immer mehr mit ihnen identifiziere und dabei «unaufdringlich belehrt», aber eben nicht brutal erzogen werde. Zudem können die Texte wegen ihres Alters mit dem Respekt der Zuschauer rechnen. Eiglers Fazit: «Die Antike ist Weltthema. Sie ist global präsent.»
Die Stoffe fordern uns heraus
Die Schweizer Schriftstellerin Melinda Nadj Abonji erarbeitet mit Eiglers Hilfe eine eigene Textfassung der drei Euripides-Dramen «Iphigenie in Aulis», «Die Troerinnen» und «Hekabe» für das Theater Luzern. Mit dem Titel «Troja» kommt die Fassung unter der Regie von Ingo Berk auf die Bühne. Es ist Berks fünfte Inszenierung eines antiken Stof- fes. «Ich hätte gerne noch mehr gemacht», sagt der 34-Jährige, aber bisher waren die Theater eher abgeneigt. Er macht kein Hehl daraus, dass die Stoffe fordern; man müsse einen eigenen Ton finden und «sie in vielerlei Hinsicht updaten». Dann finde man einen zeit- und ortsunabhängigen, allgemeingültigen Kern, der die Arbeit lohne. «Es steckt alles schon drin.» Spätestens seit dem Syrienkrieg wüssten wir, dass wir nicht in Friedenszeiten lebten, sondern dass nahe Kriege auch bei uns Auswirkungen hätten. «Die Spirale der Gewalt hört niemals auf», sagt Berk.
Er versucht, die antiken Stücke auch psychologisch ins Heute zu holen. Provokant fragt er mit Iphigenie, deren Vater Agamemnon sie für guten Wind töten will: «Sind wir wirklich weit davon entfernt, unsere Kinder für unsere Götter zu opfern?»