Kolonialisiert im eigenen Land

Artikel in der NZZ am Sonntag zu Aram Mattiolis Sachbuch Zeiten der Auflehnung
Artikel in der NZZ am Sonntag zu Aram Mattiolis Sachbuch Zeiten der Auflehnung

Bücherbeilage der NZZ am Sonntag, 26. März 2023

Die riesigen, in den Stein des Mount Rushmore gemeisselten Gesichter der vier Präsidenten George Washington, Thomas Jefferson, Abraham Lincoln und Theodore Roosevelt gehören zu den Touristenmagneten der USA. Was die wenigsten wissen: Alle vier haben dazu beigetragen, dass die Native Americans in den USA getötet, verdrängt, enteignet und zwangsassimiliert wurden. Von Abraham Lincoln etwa stammt der Satz: «Es ist meine Absicht, die Sioux vollständig auszurotten. Sie müssen behandelt werden wie Wahnsinnige oder wilde Tiere.» 

Lincoln unterzeichnete 1862 die Homestead Act, die es jedem Erwachsenen erlaubte, sich auf «unbesiedeltem Land» niederzulassen und sich ein etwa 64 Hektaren grosses Gebiet anzueignen. Roosevelts Ziel war es, die Kultur der Indigenen vollständig in der Mehrheitsgesellschaft aufgehen zu lassen. Im August 1970 stiegen Mitglieder des American Indian Movement (AIM) zu den Präsidentenköpfen auf und errichteten ein Protestcamp, so beschreibt es der Schweizer Historiker Aram Mattioli in seinem Buch «Zeiten der Auflehnung». Unter anderem liessen sie ein Banner vor Lincolns Nase wehen, auf dem «Crazy Horse Monument, Indian Power» zu lesen stand. Schon als das Monument errichtet wurde, hatte sich Luther Standing Bear, ein Oglala Lakota, dafür starkgemacht, auch das Gesicht des Lakota- Helden Crazy Horse zu verewigen. Doch der Bildhauer Gutzon Borglum, Ku-Klux- Klan-Mitglied und Anhänger der «White supremacy»-Lehre von der weissen Überlegenheit, wollte davon nichts wissen. 

Auch der Ort störte die ursprünglich dort sesshaften First Peoples: Die Erhebung der Six Grandfathers gehört zu den heiligen Bergen der Black Hills. 1868 hatten die Lakota zudem im Vertrag von Fort Laramie zugesichert bekommen, dass das Gebiet ihnen zum «absoluten und ungesicherten Gebrauch» zustehe. Die Aktivisten hatten bisher nur die Rückgabe des Badlands Bombing Range gefordert, eines grossen Testgeländes der Air Force, das im Ersten Weltkrieg aus der Pine-Ridge-Reservation herausgelöst wurde. Doch auf den steinernen Präsidentenköpfen forderten die eher gewaltbereiten AIM-Aktivisten nun die Rückgabe der ganzen Black Hills. Die Parkverwaltung liess sie gewähren, in der Hoffnung, dass die kalte Jahreszeit sie vertreiben würde. Doch als die letzten Kämpfer im Dezember 1970 aufgaben, waren die Bilder des besetzten Denkmals über Bildschirme geflimmert und hatten Zeitungsseiten geschmückt. 

«Krieger der neuen Art» 

Aram Mattioli, der an der Universität Luzern Geschichte der Neuesten Zeit lehrt, schreibt mit «Zeiten der Auflehnung » sein eigenes Werk fort, hatte er doch im 2017 erschienenen Buch «Verlorenes Land» die «Geschichte der Indianer Nordamerikas 1700 bis 1910» vorgelegt. In dem Werk, das zum Bestseller avancierte, beschrieb er das Schicksal der First Peoples, von denen zur Zeit der Landung der ersten Europäer schätzungsweise 5 bis 10 Millionen auf dem Gebiet der heutigen USA lebten – um 1900 waren noch rund 237 000 von ihnen übrig. 

Ihre Vorfahren starben an den Folgen von Krankheiten, an Hunger, Versklavung, während Umsiedlungen und durch Kopfgeldjagden; sie wurden getötet in Kriegen und Massakern. Viele Frauen wurden zwangssterilisiert, Kinder zwangsadoptiert oder in Boarding Schools dem Leben ihrer Eltern entfremdet. Mattioli spricht von Genozid, die Mitglieder der 574 staatlich anerkannten tribalen Nationen seien kolonisiert worden im eigenen Land. 

Mit dem ersten Universal Races Congress lässt Mattioli 1911 sein Werk beginnen; in London hätten «Repräsentanten kolonialisierter Völker erstmals die grundsätzliche Gleichheit aller Ethnien» beschworen. Das Buch endet 1992, in dem Jahr, als die Indigenen gegen die 500-Jahr- Feierlichkeiten der «Entdeckung Amerikas » Sturm liefen und das erste World Uranium Hearing in Salzburg stattfand, an dem indigene Völker sich über den «nuklearen Kolonialismus der USA» und den Umweltrassismus austauschten – lagen doch gerade in den Reservationen grosse Uranvorkommen, die jahrzehntelang ausgebeutet wurden. Gegen den Willen der Indigenen, auf Kosten ihrer Gesundheit und ihres Lebens und unter Inkaufnahme der Zerstörung, ja Vernichtung der Natur. Die Ernennung von Deb Haaland 2021 als erste indigene Ministerin der USA galt auch prompt als Absage an die Öl- und Gasindustrie, das Land der Reservationen weiter auszubeuten. 

Aram Mattiolis zweites Werk umschreibt einen für die First Peoples positiveren Zeitraum als sein erstes. Zwar wurden die Reservationen, in denen die Angehörigen der 574 staatlich anerkannten tribalen Nationen leben mussten, immer kleiner. Heute umfassen sie nur noch 2,3 Prozent des US-Territoriums. Kaum konnten die Indigenen in diesen «Orten der Erniedrigung» – verarmt, von Almosen abhängig und ohne Aufstiegschancen – überleben. Viele flohen in die Städte, gezwungen oder freiwillig, entfremdeten sich von ihren Wurzeln. 1948 musste Robert Yellowtail vom Stamm der Crow resigniert feststellen: «Wir sind die vergessenen Menschen in einem Land des Überflusses. Wir sind Gefangene im Land unserer Geburt.» Trotzdem gelang es ihnen vor allem in der Red-Power-Ära der sechziger und siebziger Jahre, ein neues Selbstbewusstsein zu entwickeln und sich und ihren Anliegen Gehör zu verschaffen. 

Der indigene Widerstand war vielfältig: Die Aktivisten, «Krieger der neuen Art», nutzten rechtliche Wege, schrieben Resolutionen und Petitionen. Sie überschritten massenhaft Grenzen, als ihnen das verboten war, besetzten Gebäude, blockierten Strassen und Brücken. Sie demonstrierten, marschierten, bildeten Menschenketten, schrieben Essays und Pamphlete, sangen Protestsongs. Sie verschrieben sich dem zivilen Ungehorsam, meistens friedlich, zuweilen jenseits rechtlicher Grenzen. 

Glasperlen für Alcatraz 

In einer ihrer spektakulärsten Aktionen besetzten sie 1969 für 19 Monate die Gefängnisinsel Alcatraz, auf der auch viele ihrer Vorfahren gefangen gehalten worden waren. «Wir werden die Alcatraz-Insel für 24 Dollar in Glasperlen und roter Kleidung kaufen», hiess es in einer Proklamation, in Anspielung auf Manhattan, das 300 Jahre zuvor zum selben Preis «verkauft» worden war. Man werde die Bewohner von Alcatraz «in die richtige Lebensweise einweisen (…), um ihnen zu helfen, unsere Zivilisationsstufe zu erreichen, und sie und all ihre weissen Brüder so aus ihrem wilden und unglücklichen Zustand zu erheben». Ein grossartiges, schlitzohrig- intelligentes Entlarven der pseudofreundlichen, in Wahrheit äusserst brutalen Massnahmen, welche die First Peoples erdulden mussten. 

Sehr gut lesbar beschreibt Mattioli, wie sich der Widerstand der Native Americans durch das vergangene Jahrhundert zieht. Er illustriert die Zustände immer wieder anhand der Lebensläufe der Menschen und macht auch deutlich, welch grosse Rolle die Frauen in den Bewegungen spielten. Überzeugend sind seine Ausführungen, dass Bezeichnungen wie «Häuptling» oder «Reservat» von kolonialer Diskriminierung geprägt seien; mit Reservat etwa beschreibe der Duden ein «natürliches Grossraumgehege zum Schutz bestimmter Tierarten»; Mattioli spricht durchgehend von Reservationen, sehr selten nur von Indianern, meist von First Peoples, American Indians oder Indigenen. 

Trotz allen Fortschritten ist die Lektüre zuweilen bedrückend; zu zahlreich sind die brutalen Angriffe auf das Leben der Indigenen. Noch 1953 wollte das Terminationsprogramm der Eisenhower-Regierung die Reservationen abschaffen, die Kulturen auslöschen. Dagegen wehrten sich die First Peoples vehement in der Red-Power-Ära. Der Ausdruck ist angelehnt an die Black-Power-Bewegung; vieles erinnert an den Kampf der schwarzen Bevölkerung. Etwa wenn beide als «Wilde » oder «wilde Tiere» diffamiert werden, vor Gericht keine Fürsprecher haben, ihnen Bildungsmöglichkeiten und Chancen für den ökonomischen Aufstieg verwehrt werden und beide einem grausamen Rassismus unterworfen werden. Doch gibt es einen Unterschied: Während die schwarze Bevölkerung die Gleichberechtigung anstrebt, beharren die First Peoples auf Eigenständigkeit. Auch wenn ihre Reservationen wohl nie autonom werden, so wollen sie doch eine alternative Lebensform, Kultur und Ordnung bewahren und gerade eben nicht so leben wie die Mehrheitsgesellschaft. 

Aram Mattioli: Zeiten der Auflehnung. Eine Geschichte des indigenen Widerstandes in den USA. Klett-Cotta 2023. 460 S., davon 130 S. Anhang, um Fr. 36.–, E-Book 23.–.