Sächsische Zeitung, Kultur, 12. Mai 2009
Nach acht Jahren endet Holk Freytags Intendanz am Staatsschauspiel Dresden. Eine durchwachsene Bilanz.
Holk Freytag sieht es nicht als Kommentar, dass er zum Ende seiner Intendanz am Staatsschauspiel Dresden Sartres „Die Troerinnen des Euripides“ inszeniert und damit „eines der deprimierendsten Stücke der Literaturgeschichte“. Dabei hat der 65-Jährige nie einen Hehl daraus gemacht, dass er gerne geblieben wäre. Am Wochenende stehen mit Sartres Werk und Schillers „Wilhelm Tell“, Regie Wolfgang Engel, die letzten Premieren an. Eine Bilanz nach 189 Inszenierungen in acht Jahren.
DER POLITIKER
Als Matthias Rößler (CDU) 2002 Kunstminister wurde, sagte er zu Holk Freytag, er verstehe nicht viel von der Theaterszene, Freytag solle sich doch bitte selbst kümmern. Das tat der – ein Jahr zuvor von den Bühnen Wuppertal gekommen – gerne und erfolgreich: Das Theater ist in einem technisch hervorragenden Zustand. Das Kleine Haus ist saniert, das Schauspielhaus ebenso. Das Probebühnenzentrum wurde 2006 eingeweiht. Die Werkstätten, die sich Staatsschauspiel und Semperoper teilen, funktionieren tadellos. Doch sank der Etat um drei Millionen Euro. Dem fiel das experimentelle Theater in der Fabrik (TIF) zum Opfer – ein riesiger Verlust. Der Nachfolger „Neubau“, als Sparte im Kleinen Haus nicht unabhängig, konnte den Wegfall der Kaderschmiede nur bedingt ausgleichen.
Freytags Kontakt zu Rößlers Nachfolgerin Barbara Ludwig (SPD) war gut. Dann kam Eva-Maria Stange (SPD), interessierte sich selbst für die Theaterszene und wollte nicht akzeptieren, dass das Dresdner Haus überregional nur wenig beachtet wird. Deswegen verlängerte sie Freytags Vertrag nicht und fand Wilfried Schulz als Nachfolger geeignet, der das ähnlich große Hannoveraner Haus zum Beispiel sechsmal zum Berliner Theatertreffen führte.
Der Vorwurf, Freytag habe den Publikumszuspruch nicht steigern können, stimmt indes nicht: Zwar blieb die Auslastung mit 64 Prozent niedrig, aber die Zuschauerzahl stieg von 152 000 im Jahr 2000 auf 170 000 im Jahr 2008. Ein Plus von 18 000.
Strippenzieher Freytag wollte als Vorsitzender der Intendantengruppe des Deutschen Bühnenvereins auch auf der bundesweiten Klaviatur spielen, gegen Tariferhöhung hier und Theaterschließung dort wettern. Wer weiß, wie das Staatsschauspiel dastünde, hätte sein Chef mehr Zeit für sein eigenes Haus gehabt.
DER ALTLINKE
Freytag, seit 1967 SPD-Mitglied, hat sich seine Überzeugung, politisches Theater machen zu wollen, bis heute bewahrt. Die Einstellung, einst revolutionär, wirkt heute fast konservativ. Wenn er das Sartre-Drama der verwitweten Troerinnen in der Szenerie einer apokalyptischen Landschaft in Szene setzt, schwingt auch die verzweifelte Hoffnung auf die Veränderbarkeit der Welt mit – und die bittere Erkenntnis: „Ach, es gibt nicht viel Grund zum Optimismus.“ Die hatte Freytag einst in einem SZ-Interview zur Frage „Was ist heute links?“ geäußert.
Ein Bruder im Geiste ist da der umstritten-radikale Regisseur Volker Lösch. Dass Freytag dessen Arbeiten ermöglichte, ist zweifellos sein größter Verdienst: Bruckners „Die Rassen“ lief als zweite Premiere im sanierten Kleinen Haus. Es folgten der temporeiche „Marquis von Keith“ im Schlosstheater und natürlich die Stücke mit dem Dresdner Bürgerchor: Aischylos’ „Die Orestie“, Hauptmanns „Die Weber“, Büchners „Woyzeck“ und das selbst entwickelte Projekt „Die Wunde Dresden“. Im juristischen Streit um „Die Weber“ stellte sich Freytag immer vor die Inszenierung, kampfbereit, sicher auch ein wenig stur, aber stets glaubwürdig. Endlich konnte er wieder kämpfen, gab es wieder klare Fronten …
DER REGISSEUR
Holk Freytags liebster Regisseur ist – Holk Freytag. Er begann seine Intendanz mit Lessings „Nathan“ und traf damit nach den Angriffen aufs World Trade Center 2001 den Nerv des Publikums. Symbolträchtig wird der 77. Nathan die Intendanz am 20. Juni 2009 beenden. Dazwischen die Werke der Familie Mann: Mit „Zauberberg“ und „Mephisto“ hatte er ein glückliches Händchen; die „Buddenbrooks“ erarbeitete aktionsreich Hermann Schein, den „Professor Unrat“ tänzerisch Beat Fäh. Freytag selbst legte mit Goethes „Faust I“ und „Faust II“ das Schauspielhaus lahm, auch die Aufmerksamkeit der Zuschauer erlahmte bald.
Denn wie in Goethes „Torquato Tasso“, Aischylos’ „Prometheus“ und Shakespeares „Lear“ vernachlässigte er über der Begeisterung für den Text seine Rolle als Regisseur: Die Arbeiten waren statisch und einfallslos, die Schauspieler spielten nur mit halber Kraft. Was bleibt? Ein Weihnachtsmärchen: „Christmas Carol“ im Japanischen Palais wird übernommen.
DIE ANDEREN REGISSEURE
Viele Regisseure waren hier, wenige fanden das Wohlgefallen des Hausherrn und durften wiederkommen. Klaus-Dieter Kirst blieb bis 2007, lieferte Solides wie „Richard III“ oder „Der Menschenfeind“. Matthias Gehrts „Theatermacher“ und „Elling“ liefen endlos. Constanze Kreusch schaffte es von der Assistentin zur Regisseurin, ihr „Kabale und Liebe“ tourt noch als Gastspiel. Sensibel inszenierte Christoph Roos „Auf dem Weg zur Hochzeit“ oder „Glasmenagerie“. Paolo Magelli hob schwere Brocken wie „Platonow“ oder „Reigen“ auf die Bühne. Walter Meierjohann zeigte Fantasie mit „Tintenherz“ oder „Geschichten vom alltäglichen Wahnsinn“. Michael Simon war leider nur zweimal hier: Sein „Hamlet“ und seine „Leiden des jungen Werther“ gehören zum Besten, was zu sehen war, und zum Wenigen, was wirklich herausragt.
DIE SCHAUSPIELER
Dresdner Schauspieler wechseln nach Potsdam, Frankfurt/Main, Basel und Berlin – und brauchen den Vergleich mit ihren Kollegen nicht zu scheuen. Denn Freytag hat ein gutes Ensemble vereint und vielseitig besetzt: Karina Plachetka, Katka Kurze, Kai Roloff, Victor Tremmel, Dirk Glodde hat er geholt, ebenso den Berserker Tim Grobe, der sich als „Marquis von Keith“ die Seele aus dem Leib spielte. Hans Falár konnte leider nur kurz den Nathan geben, dann übernahm Dieter Mann, der auch den König Lear mimt. Christine Hoppe war umwerfend in „Drei Schwestern“, Marianna Linden in „Auf dem Weg zur Hochzeit“ und Ahmad Mesgarha der perfekte Teufel im „Mephisto“; im „Faust“ hätte er sicher mehr zeigen können. Mal sehen, was neue Regisseure aus den bekannten Akteuren herauskitzeln werden.
Premiere von Schillers „Wilhelm Tell“ am 15.5., Schauspielhaus, noch elfmal in dieser Spielzeit
Premiere von Sartres „Die Troerinnen des Euripides“ am 16. 5., 20 Uhr, Kleines Haus, nur noch am 21., 23., 26., 31. 5. und 5., 11., 18. 6.
Kartentel. 0351/491 35 55
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Die Intendanz von Holk Freytag am Staatsschauspiel Dresden in Daten
22. 9. 2001 Mit Lessings „Nathan der Weise“ startet Freytags Intendanz am Staatsschauspiel Dresden.
August 2002 Die Jahrhundertflut trifft Schauspielhaus, Schlosstheater und Theater in der Fabrik. Schaden: 16 Millionen Euro. Alle Premieren finden statt.
13. 5. 2004 Die Uraufführung von Martin Heckmanns’ „Anrufung des Herrn“ schließt das TIF in Dresden-Löbtau.
27. 6. 2004 Das Schlosstheater schließt.
24. 11. 2004 Hauptmanns „Die Weber“, Regie Volker Lösch, wird per einstweiliger Verfügung verboten.
14. 2. 2005 Uraufführung der „Dresdner Weber“. Die ursprüngliche Inszenierung wird nicht mehr gezeigt: Der Verlag verlängert das Aufführungsrecht nicht.
15. 1. 2005 Nach Sanierung öffnet das Kleine Haus mit Kaurismäkis „Der Mann ohne Vergangenheit“ (Regie Freytag).
20. 1. 2005 Mit Zelenkas „Geschichten vom alltäglichen Wahnsinn“ beginnt Walter Meierjohann als Chef von „Neubau“ im Kleinen Haus.
Sommer 2005 Martin Wigger übernimmt den „Neubau“ und führt ihn bis Sommer 2009.
12. 10. 2007 Büchners „Woyzeck“, Regie Volker Lösch, eröffnet das Schauspielhaus nach Sanierung.
20. 6. 2009 Mit der 77. Vorstellung von Lessings „Nathan der Weise“ endet Holk Freytags Intendanz.