Wir suchen den Nazi in uns allen

Sächsische Zeitung, Kultur, 11. Oktober 2007

Nach den „Webern“ von Hauptmann inszeniert Volker Lösch mit dem Dresdner Bürgerchor jetzt Büchners „Woyzeck“.

Im Mai haben 529 Dresdner einen Fragebogen ausgefüllt. Volker Lösch und sein Dramaturg Stefan Schnabel baten darin um Stellungnahmen zu Themen wie Beziehungen zwischen Mann und Frau, Arbeit, Zukunft oder Gewalt. Die Antworten bauten sie in Büchners „Woyzeck“ ein, der morgen im Schauspielhaus Dresden Premiere hat. „Woyzeck“ ist Abschluss einer Trilogie mit dem Dresdner Bürgerchor: Nach Demokratie (Aischylos „Orestie“) und Arbeit (Hauptmanns „Weber“) widmet sich Lösch darin dem Rechtsradikalismus.

 

Bekennende Rechtssextreme gehören nicht gerade zum klassischen Theaterpublikum. Erreichen Sie überhaupt die, die sie erreichen sollten?

Die Betroffenen sitzen da drin, sind die Bürger, sind wir. Ich brauche keine Skins und Nazis im Publikum, weil wir uns jetzt um unsere eigenen Nazianteile kümmern. Was wir in uns tragen an Wünschen, Ängsten, Aggressionen. Unsere Haltungen zu bestimmten Themen, die rechtes Denken begünstigen, auslösen, erst ermöglichen.

Sie meinen, das Publikum ist rechter, als es denkt?

In Sachsen haben bei den Landtagswahlen 9,2 Prozent NPD gewählt – das sind nicht nur Skinheads und Schläger gewesen. Sondern ganz normale Bürger, das waren letztlich wir. Es wäre anmaßend zu behaupten, dass rechte Subkultur und Rechtsextremsein nur in den Außenmilieus ausgeprägt wird. Die Ränder werden durch die Mitte geprägt, nicht andersherum. Und daher interessiert uns für diese Arbeit der Extremismus der Mitte, und wir müssen uns über uns selbst Gedanken machen. Auch über uns Theatermacher oder Regisseure. Das ist auch interessanter, als Skinheads auf der Bühne zu zeigen, auf die die Zuschauer mit einem wohligen Schauer draufgucken und am Schluss alle betroffen mit dem Kopf nicken. Das können sie hier nicht, denn es sind eigene Texte, die sie zu hören kriegen.

Sie inszenieren Büchners „Woyzeck“ und haben einen Fragebogen erarbeitet. Die Antworten von 529 Dresdner Bürgern bauen Sie in den Text ein. Haben die Ihre Theorie bestätigt?

Wir hatten gar keine Theorie, wir waren auf der Suche: Gibt es etwas in diesem Bereich, das mit Rechtssein zu tun hat, mit der Gründung einer Denkungsart, welche dann jugendliche Gewalt auslösen kann? Das ist eine Feldforschung, die in dem Ausmaß am Theater noch nicht stattgefunden hat. Meistens befragt man das eigene Ensemble oder nimmt Materialien aus Fremdmedien. Aber bei 529 Dresdnern kann man schon von einer gewissen Repräsentanz sprechen. Oder wie der Dramaturg Stefan Schnabel sagt: Das ist eine Seelenerkundung, eine Tiefbohrung in die ostdeutsche Seele. Es sind sehr deutliche Tendenzen zu erkennen. Natürlich ist Wahrheit auch nicht ohne Verdichtung zu erreichen.

Haben die Antworten Sie überrascht?

Größtenteils ja. Die Frage zum Beispiel: Nennen Sie positive oder negative Aspekte von Dresden. Darauf haben 90 Prozent ausschließlich positiv geantwortet. Das hat mich überrascht – nicht, weil ich Dresden nicht schön finde. Aber die Zentrierung auf diese Stadt und diese Lebenswelt schließt etwas anderes aus. Ebenso die Wünsche der jungen Frauen an ihre Zukunft, die sehr kleinbürgerlich sind. Immer wieder kommt das Hochzeitsmodell mit Haus und Hund und Kleinfamilie. Das ist ein Suchen nach einem Leben, das nichts zu tun hat mit dem, was man jungen Leuten zuschreibt: dass sie nach vorne gehen, sich mit Neugier auf die Welt stürzen. Das ist es doch, was Jungsein ausmacht: Dass man forscht, etwas riskiert.

Die kleinbürgerlichen Antworten haben Sie schon bei den „Webern“ erschreckt. Sehen Sie darin eine Verbindung zum Rechtsradikalismus?

Man kann das nicht direkt beschreiben à la: Wenn man so oder so denkt, wird man rechtsextrem. Es ist vielmehr eine Summe von verschiedenen Aspekten, die dazu führen, dass sich ein rechtsextremes Milieu in Ostdeutschland ausbreitet. Das ist einerseits Erosion des demokratischen Systems; immer mehr Leute glauben immer weniger an Demokratie oder haben nie daran geglaubt – das haben wir ja in der „Orestie“ schon untersucht und herausgefunden. Das setzt sich weiter fort. Es gibt andererseits eine zunehmende Verstärkung des Ungleichgewichts zwischen Arm und Reich. Und die Perspektivlosigkeit, die sich jungen Leuten dadurch eröffnet, dass ihnen wenig geboten wird. Und – noch schlimmer – dass ihnen von den Alten keine Kraft mehr gegeben wird, weil die ihnen tendenziell erzählen, dass es früher in der DDR besser war.

In einer Matinee zum Stück haben Sie Ausschnitte gezeigt. 13 junge Choristen sprachen Woyzeck, 20 ältere den Hauptmann.

So ergibt sich eine Konfrontation zwischen den älteren, angstbesetzten bürgerlichen Individuen, die die Jungen dazu drängen, Beschäftigung aufzunehmen. Und den Jungen, die versuchen, sich aus der Unterdrückung zu befreien. Das ist die große Generationenfrage bei Büchner. Sie ist ein zentraler Punkt unserer Inszenierung: Wo bestehen Verbindungen, wo sind sie abgerissen zwischen einer Elterngeneration, die in der DDR aufgewachsen ist und dort sozialisiert wurde, und Jugendlichen, die mit der DDR nichts mehr oder wenig am Hut haben und die jetzt versuchen müssen, in der neuen Gesellschaft Fuß zu fassen? Da tut sich ein ungeheurer Riss auf zwischen Alt und Jung. Die Alten, die viel Mist erlebt haben in den letzten 20 Jahren, sind in der Vergangenheit behaftet. Sie geben daher den Jugendlichen keine Kraft mit, keine Inspiration, keinen Glauben an etwas – das ist natürlich zugespitzt, aber ein erkennbarer Trend. Das erzählen viele Choristen, das kommt auch in der Befragung deutlich heraus. Das ist eine speziell ostdeutsche Angelegenheit.

Welche Folgen hat das für die Jugendlichen?

Man spürt eine große Leere und Perspektivlosigkeit, etwas Defätistisches, Zynisches. Oder gar nichts: Langeweile, pure Langeweile. Die Alten gehen auf die Provokationen der Jugendlichen nicht ein, kommentieren rechtes Denken oder Rechtssein nicht. Dabei sind das oft auch nur Provokationsgesten, um Aufmerksamkeit zu erreichen. Dieses stillschweigende Dulden verbreitet sich, da auch die ältere Generation nicht glaubt, in einem System zu leben, in dem man dafür verantwortlich ist, sein Leben zu gestalten. Man kann aber alles noch ändern über eigenes Engagement – das ist ein Glaube, der ist mir implantiert, von klein auf. Wenn ich etwas verändern möchte, arbeite ich so lange, bis es nicht mehr geht. Die Resignation ist in Ostdeutschland viel ausgeprägter als im Westen. Die nächsten zehn bis 20 Jahre wird es diesen Generationenkonflikt noch geben – oder noch länger, denn die Frustrationen werden weitergegeben und kritiklos übernommen. Das ist teilweise sehr deutlich aus den Antworten ablesbar.

Sie haben nach Erfahrungen mit Ausländern gefragt. Was kam als Antwort?

Die Art, wie die Antworten formuliert wurden, zeigt, dass es letztlich keine Erfahrung mit Ausländern gibt. Da kommt zum Beispiel: „Ich persönlich kenne keine Ausländer in Dresden.“ Oder: „Ausländer sind für mich auch nur Menschen.“ Oder: „Ich mache keine Unterschiede zwischen Dresdnern und Ausländern. Ich erwarte von beiden verantwortungsbewusstes Handeln. Wobei ich meine, der Ausländer als Gast müsse sich besonders darum bemühen.“

Wenn die Antworten so deutlich sind, kriegen wir dann nach dem Weber- den Woyzeck-Skandal?

Dazu kann ich nichts sagen, denn den Skandal haben wir nicht gemacht. Der Skandal war eigentlich, dass es einen Skandal gab. Einen Skandal kann man nicht provozieren und auch nicht darauf spekulieren – der wird von außen gemacht, und das ist dann so oder eben nicht. Aber ein Skandal wäre natürlich schön – wir würden uns über uns selber empören.

 

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Volker Lösch und Büchners „Woyzeck“

 

Volker Lösch, geb. 1963 in Worms

– 1989 – 1995 Schauspieler in Göttingen, Weimar, Zürich

– seit 1995 Regisseur, zuerst frei mit eigener Gruppe, dann u.a. in Zürich, Bern, Berlin, Essen, Wuppertal, Graz, Düsseldorf, Oberhausen

– Inszenierungen in Dresden: „Die Rassen“, „Der Marquis von Keith“, Die Orestie“, „Die Weber“, „Woyzeck“

– seit 2005/2006 Leitungsmitglied im Staatstheater Stuttgart mit Hasko Weber

– In Leipzig: Kleists „Penthesilea“ (Premiere 4.4.2008)

 

Büchners Woyzeck

– Georg Büchner schreibt Woyzeck 1836 im Alter von 23 Jahren. Bei seinem Tod 1837 ist das Stück Fragment

– Inhalt: Soldat Woyzeck arbeitet beim Hauptmann und stellt sich dem Doktor für Experimente zur Verfügung. Er hat mit Marie ein Kind. Als er sieht, wie die mit dem Tambourmajor fremdgeht, ersticht er sie und ertrinkt dann.

 

Dresdner Woyzeck

– „Woyzeck“, Büchner und 529 Dresdner Theaterbesucher

– Vorstellungen: 12. (Premiere), 15., 19., 27., 28.10.

– Publikumsgespräch: 15., 28.10., 10., 12.11. (nach der Vorstellung)

– Veranstaltung: Rechtsextremismus und Gewalt von Jugendlichen in Ostdeutschland, Theater, Vorträge, Diskussionen, 10., 11.11., Kleines Haus – Tel. 0351/ 491 35 55