Sächsische Zeitung, Kultur, 15. Oktober 2007
Volker Lösch interpretiert Büchners „Woyzeck“ als wütende Analyse des Rechtsradikalismus.
Die Picknickgesellschaft schaut zurück in die Vergangenheit. Ach, wie schön war das alles damals, wie sicher, wie beschützend. Und „echten Spaß“ gab es, jeder hat jedem geholfen, immerzu, allezeit. Sie hören nicht mehr auf, schwelgen, schweben, sind glücklich. Wenigstens in der Erinnerung.
Allein gelassen vor dem Fernseher, können es die Jungen nicht mehr ertragen. Erst zeigen sie den Stinkefinger, dann masturbieren sie, skandieren: „Baut doch einfach die Mauer wieder auf!“ Die Alten preisen nur „die Leichtigkeit des Lebens“. Die Jungen verlieren die Geduld. „Hier marschiert der nationale Widerstand!“, rufen sie. Es hilft nichts. „Sandmann, lieber Sandmann“ singt die Picknickgesellschaft.
Die Szene aus Volker Löschs Version von Georg Büchners „Woyzeck“, der am Freitagabend zur Eröffnung des sanierten Schauspielhauses Premiere feiert, ist bitterböse. Sie spitzt sich zu, immer mehr. Das Zuschauen tut regelrecht weh, so sehr leben die beiden Gruppen in ihrer eigenen Welt, merken nicht, wie sie den Teufelskreis in Gang setzen. Wie die Ignoranz der einen die Resignation der anderen immer auswegloser erscheinen lässt, wie die Provokation erst nur eben das ist und dann zur Lebenshaltung wird.
Genau das ist die zentrale These von Regisseur Lösch und Dramaturg Stefan Schnabel: Wenn bei der sächsischen Landtagswahl 2004 tatsächlich 9,2 Prozent der rechtsextremen NPD ihre Stimme gaben, und wenn unter den 18- bis 24-Jährigen 21 Prozent, also jeder Fünfte, NPD wählte – dann ist das kein Problem der Jugend allein. Dann müssen die Ursachen dafür auch zwischen den Generationen zu finden sein.
Büchners Text als Folie
Die Textfassung beinhaltet neben dem fast vollständigen Büchner-Text – nur zum medizinisch wertvollen Erbsenfresser macht sich Woyzeck nicht – viele Einschübe. Im Wesentlichen die Antworten von 529 Theaterbesuchern auf einen Bogen mit 24 Fragen zu gesellschaftlichen Themen wie Gewalt, Ausländerfeindlichkeit oder Beziehungen (eine Auswahl verzeichnet das hervorragende Programmheft auf 70 Seiten). Dazu aber auch zahlreiche Lieder: Volkslieder, Popsongs und Stücke der sogenannten zweiten Schulhof-CD, die die NPD vor der Bundestagswahl 2005 auf Schulhöfen verteilte. Büchners Jahrmarkt steigt in Pretzien, wo im Juni 2006 Jugendliche eine Bücherverbrennung mit dem „Tagebuch der Anne Frank“ veranstalteten. Auch der sächsische NPD-Abgeordnete Jürgen Gansel kommt zu Wort.
Was das alles mit Büchner und mit Woyzeck zu tun hat? Überraschend viel – nicht nur, weil der wohl heftigste Satz „lasst uns noch übers Kreuz pissen, damit ein Jud stirbt“ aus Büchners Meisterwerk selbst stammt. Denn Woyzecks Kampf gegen die Obrigkeit, seine hilflose Sehnsucht nach ein bisschen Reichtum und sein erfolgloser Kampf um Marie, die Mutter seines Sohnes, gibt eine Folie für Löschs Unterfangen ab.
Marie betrügt Woyzeck mit dem Tambourmajor – der ist der schlimmste Demagoge von allen. Wenn er um Marie wirbt, singen sie im Duett „Zeit zu rebellieren“ – ein Lied der NPD-Vorzeigesängerin Annett. Die Verführung ist doppelt: Zum männlichen Tambourmajor. Und zur allzu simplen Lösung aus der gesellschaftlichen Schieflage. Am Schluss ersticht Woyzeck, gedemütigt und erniedrigt, Marie und jagt sie in Dresden durch die Menschenmenge. Keiner reagiert. Alle schauen weg.
Oh ja, das Stück spielt in Dresden. Und das nicht nur, weil zu Beginn jedes Chormitglied einmal sagen darf, wie schön diese Stadt ist. Tenor: „Es fehlt nur das Meer.“ Sondern auch, weil das Bühnenbild von Cary Gayler eine schneekugelähnliche Kulisse abgibt: riesige Frauenkirche, Vorgarten mit Wäscheleine, Cabrio, Zitronenbäumchen, Bügeleisen. Idylle, Kleinbürgerlichkeit und Spießigkeit.
Kraft, die Mauern sprengt
Hier agiert der beeindruckende Laienchor, in Gruppe, hin und wieder Solo. Zur Premiere wohl nervös und deshalb manchmal unverständlich. Aber mit einer Verve und Kraft, die Mauern sprengt. Dazwischen agieren drei Schauspieler atemberaubend vital: Viktor Tremmel als Sterbender Woyzeck im Wasser, Minna Wündrichs Marie als liebestolle Diskogängerin oder zu Tode geängstigt, Kai Roloff als demagogischer Tambourmajor – solche Szenen setzen sich mit Widerhaken im Gedächtnis fest.
Schauspielerisch exzellent, Szenen voller überbordender Fantasie, zum Teil mit beinah kalauerndem Humor (der, noch öfter eingesetzt, noch mehr Distanz geschaffen hätte) – für eine Aussage, die provoziert und polarisiert. „Widerstandsfähig und wahr ist Theater nur, wenn es in seinen Analysen und Zuspitzungen radikal ist“, schreibt Dramaturg Schnabel. Dieser Abend ist sehr wahr. Vielen sicher zu wahr.
Wieder am 15., 19., 27., 28. Oktober. Kartentelefon: 0351-4 91 35 55