Sie blickt den Autoren in die Seele

St. Galler Tagblatt, Focus, 24. Oktober 2018 

Fotografie Ayse Yavas hat fast alle Schweizer Schriftsteller porträtiert. Jetzt zeigt sie erstmals ihre Bilder «Auf Augenhöhe», in denen sie das Gleichgewicht findet zwischen Nähe und Distanz.  

Das Foto von Autor Urs Faes hängt gleich vorne links. Faes schaut aus der unteren linken Ecke, sein Oberkörper schwebt fast vor dem dunklen Hintergrund. Weste und sein Rollkragenpullover verschwimmen mit dem Schwarz, als könne sich der Autor jederzeit wieder ins Dunkle zurückziehen. Faes blickt den Betrachter direkt an, freundlich, aber auch mit Skepsis und der ihm eigenen Zurückhaltung. 

In einem Flur im Zürcher Kulturzentrum Karl der Grosse bekommen die Besucher dieser Tage Schweizer Schriftsteller zu Gesicht. Alle mit Rang, Namen und Preisen, bekannt oder gerade dabei, bekannter zu werden, sassen vor Ayse Yavas’ Kamera. Ihr Name steht – oft fast unlesbar klein – neben unzähligen Autorenfotos in Buchumschlägen, in Lesungsankündigungen oder auf Plakaten.

Eine Passion seit 20 Jahren

Ayse Yavas nimmt sich Zeit, die zu Porträtierenden kennen zu lernen. «Sie war drei oder vier Stunden bei mir», erinnert sich Urs Faes an den Fototermin. «Sie muss unzählige Bilder gemacht haben.» Das Fotografieren von Schriftstellern nennt sie «ihre Passion», eine Passion notabene, die schon 20 Jahre anhält. Sie nahm ihren Anfang, als Yavas, noch festangestellt bei der Agentur Keystone, den Auftrag bekam, Autoren abzulichten für den Auftritt der Schweiz als Gastland der Frankfurter Buchmesse 1998. «Ich wusste vorher gar nicht, dass Portraitfotografie mein Gebiet ist», erinnert sich Yavas, «aber ich merkte sofort, dass Autoren Menschen sind, die reflektieren, bei denen Begegnungen in die Tiefe gehen.» Bei Werner Morlang etwa war sie von 11 Uhr bis 18 Uhr – «und danach hatte ich immer noch kein Foto». 

Im Gespräch versucht sie sich vorzutasten. Aber zu viel reden koste zu viel Kraft. Die braucht sie für ihre Arbeit, für das richtige In-Szene-Setzen. Dazu gehört der Ort, der sie inspirieren muss, der den Rahmen setzt und den sie zuweilen lange sucht. Studios mag sie nicht, «das sind immer die gleichen Wände». Blitzlicht auch nicht; sie setzt nur grosse Reflektoren ein, die das Tageslicht dorthin lenken, wo sie es haben möchte. «Wir waren nur in meinem kleinen Wohnzimmer», erinnert sich Urs Faes. «Der Raum hat zwei Fenster und daher das meiste Licht.» Spärlich nur ist auf dem Foto sein Gesicht beleuchtet, die linke Hälfte liegt fast im Dunkeln. 

Sie knetet ihre Porträtierten mit sanftem Druck 

«Ich könnte gerne nur Schwarz-Weiss fotografieren», sagt Yavas, «aber weil das nicht mehr gefragt ist, reduziere ich die Farbe.» Mal nimmt sie die Farbe hinterher ein wenig heraus, oft aber fotografiert sie reduziert. Dann ist ein Bild nicht schwarz-weiss, sondern scheinbar schwarz-grün. Yavas achtet auf Details, auf Mimik, Gestik, Haltung. Sie versuche wie ein Bildhauer, die Porträtierten zu kneten. Ihr Druck aber ist sanft. 

«Sie hat mich nicht zu Posen gezwungen», sagt Urs Faes, «aber aufgefordert, mich zu bewegen. Und dabei hat sie mich unentwegt angeschaut. Ich habe verblüffend schnell vergessen, dass ich fotografiert werde.» Die Fototermine sind für Yavas Begegnungen «auf Augenhöhe», wie sie auch die Ausstellung genannt hat. Sie beobachtet genau und unablässig. 

Auch das Modell hat Zeit, sein Gegenüber zu studieren 

Als Kind durfte sie einer Malerin im Quartier Modell sitzen, fühlte sich «auserkoren», als «das schönste oder vielleicht das interessanteste Kind der Nachbarschaft », wie sie sich lachend erinnert. Damals merkte sie, dass auch das Modell Zeit hat, das Gegenüber zu studieren; eine Erkenntnis, die ihr heute hilft, sich in ihr Gegenüber hineinzuversetzen. 

Ayse Yavas gelingt es, die Momente festzuhalten, in denen die Autoren ihre Ambivalenzen offenbaren. Sie wirken allesamt, als hätten sie Raum gehabt, sich zu zeigen, aber auch Raum, sich wieder zurückzuziehen. Sie sind distanziert und nahe zugleich, aber nie blossgestellt. Lukas Bärfuss etwa schaut herausfordernd, ein wenig arrogant, gleichzeitig auch verletzlich; und Melinda Nadj Abonji wirkt vor hellem Hintergrund abwartend, neugierig und mit ihren Locken wild und fein zugleich. 

«Ich will den Menschen Distanz lassen, nicht ihnen zu nahe treten», sagt Yavas, «Respekt ist dabei ganz, ganz wichtig.» Urs Faes sagt: «Sie interessiert sich wirklich für die Menschen. Ich habe bei dem Foto das Gefühl, sie habe durch meine Fassade geblickt. » 

Hinweis 24.–28.10. Ausstellung «Auf Augenhöhe », im Rahmen von «Zürich » liest im Kulturzentrum Karl der Grosse; zuerich-liest.ch