Beilage im Focus vor der Fussball-WM, 24. Mai 2015
Der Journalist Kersten Knipp hat eine Kulturgeschichte Brasiliens geschrieben, in der er das zwiespältige Land zwischen Gewalt und ewiger Hoffnung auf eine bessere Zukunft sieht.
Herr Knipp, wie stellt sich Ihnen die Kultur Brasiliens dar? Einheitlich?
Kersten Knipp: Ganz, ganz unterschiedlich. Es gibt natürlich diese verspielte Kultur – Samba, Karneval –, mit der man das Land heutzutage assoziiert. Aber tatsächlich ist die indianische Kultur im Amazonas etwas ganz anderes als die der Nachfahren europäischer Einwanderer im Süden. Im Grunde genommen hat Brasilien längst den Anschluss an die «Global Culture» gefunden, die alle Kulturen vereinheitlicht. Dazu gibt es die Kulturformen der Afrobrasilianer, der Indianer und alle Melange oder Übergangsformen dazwischen. Denn die Kultur ist wie das Land: riesig, riesig, riesig.
Was hat Sie dennoch dazu verleitet, eine Kulturgeschichte Brasiliens zu schreiben?
Knipp: Die Kultur ist Spiegel der Gesamtgeschichte Brasiliens. Denn sie ist von Anfang an hochpolitisch. Ernsthafte Kultur ist in Brasilien engagierte Kultur, denn das Zusammentreffen der drei Ethnien – Indigene, europäische Kolonisatoren, vor allem Portugiesen, Sklaven aus Afrika – ist eine tragische Geschichte von Entführung, Zwangsarbeit, Enteignung, von Opfern und Tätern.
Welche Rolle hat bei der Geschichte die Kultur gespielt?
Knipp: Die Kultur ist von Anfang an der Versuch, die drei Ethnien miteinander ins Gespräch zu bringen. Schon die Christianisierung vor allem durch die Jesuiten lief über die Kultur: mit gemeinsamen Gesängen und Umzügen. Das war ein erstes Gemeinschaftsgefühl – wenn auch natürlich immer mit dem Ziel, die Menschen zum Christentum zu bringen.
Warum haben Sie Ihr Buch «Das ewige Versprechen» genannt?
Knipp: Zunächst klingt der Titel verheissungsvoll, aber er bedeutet auch, dass die drei Ethnien bis heute kein gemeinsames brasilianisches Volk entwickeln konnten. In vielen Beziehungen – Verdienst, Einkommen, Karrieremöglichkeiten – sind die Afrobrasilianer immer noch Bürger zweiter Klasse. Zudem hat sich eine Kultur der Gewalt entwickelt, mit einer regelrechten Lust an der Gewalt. Manch brasilianischer Historiker sagt, das sei immer noch eine Folge der Sklaverei, die gerade in Brasilien sehr gewalttätig war. Dazu kommt, dass auch die Militärdiktatur nie richtig aufgearbeitet wurde.
Auch die scheinbar verspielten Kulturformen wie Samba oder Capoeira sind aus Gewalt entstanden.
Knipp: Der Samba wird immer als leichte, verspielte Musik wahrgenommen, aber er entstammt – wie die Capoeira – der Zeit der Sklaverei, entwickelte sich, als sich die Schwarzen auf die Hügel – Favela genannt – zurückzogen und dort Musik machten, auch in geistiger Nähe zum religiösen Kult Macumba. Das war verdächtig, und die Portugiesen machten immer wieder Razzien. Die Texte handeln bis heute von Polizeiwillkür, Armut, Gewalt, persönlichem Leid – insofern ist der Samba der Blues Brasiliens. Und die Capoeira war der Versuch der Sklaven, denen die Hände auf dem Rücken gebunden waren, sich trotzdem im Wettbewerb zu messen.
Sie schreiben, nur die Kultur könne Wege aus der Favela, aus dem Elend bahnen. Warum?
Knipp: In den Favelas wird versucht, Afrobrasilianer, die sonst überhaupt keine Chance hätten, wieder in die Gesellschaft einzugliedern und ihnen ein Gemeinschaftsgefühl zu geben über die Kultur, über Musik.
Wie funktioniert das?
Knipp: 1974 gründeten zwei Musiker dieMusik- und Kulturgruppe «Ilê Aiyê». Sie trat in Salvador de Bahia im Karneval auf, bot aber auch schwarzen Jugendlichen Schneider- oder Trommelbau- Werkstätten und berufliche Qualifizierungskurse an. Das Prinzip wurde von der Gruppe «Olodum» übernommen. Die wurde bekannt durch ihre Auftritte mit Michael Jackson und Paul Simon. Für die Favelas in Rio de Janeiro übernahm «Afro Reggae» das Prinzip, um Jugendlichen berufliche Chancen zu eröffnen. Auf «Afro Reggae» geht das Prinzip der Friedenspolizei UPP zurück, die jetzt versucht, die Favelas zu befrieden. Man muss ja auch der Kriminalität etwas entgegensetzen – wir reden von 50000 Raubmorden im Jahr. Das ist ein Modell, das sehr viel Anwendung findet und Hoffnung gibt.
Sie zitieren den Altpräsidenten Lula mit den Worten: «Kultur ist ein mächtiges Instrument zur Integration, zum Wandel und zur sozialen Gerechtigkeit.»Wird die Kultur da nicht völlig überfordert?
Knipp: Wenn man den Begriff Kultur sehr konzentriert, dann vielleicht. Aber ich fasse Kultur auch als Miteinander, als Versuch einer Gesellschaft, sich untereinander zu verständigen: Was ist diese Gesellschaft, was Brasilien, was der Brasilianer? Dieser erweiterte Kulturbegriff kann hier gut tragen. Natürlich ist diese Friedenspolizei nicht unumstritten, gerade in diesen Tagen wird ja auch klar, dass Teile der Beamtenschaft korrupt sind und sehr, sehr entschieden vorgehen, allerdings auch gegen Leute, die selbst sehr entschieden vorgehen. Es ist eine Kunst, da den richtigen Weg zu finden. Dennoch ist das ein Konzept, das Hoffnung machen kann. Denn man hat ja sonst nichts anderes.
Kersten Knipp: Das ewige Versprechen. Eine Kulturgeschichte Brasiliens, Suhrkamp 2013, 382 S., Fr. 17.90
Kersten Knipp ist Kenner und Liebhaber Brasiliens, Journalist u. a. für NZZ, FAZ