«Vorher weiss man gar nichts»

St. Galler Tagblatt, Focus, 18. Oktober 2013

Corinna Harfouch ist eine der bekanntesten und besten Schauspielerinnen Deutschlands. Jetzt spielt sie in Zürich in Dürrenmatts «Die Physiker» und ist im Film «Finsterworld» zu sehen. Ein Gespräch über Untiefen hinweg.

Corinna Harfouch gibt nicht gerne Interviews. Manchmal scheint sie aus Prinzip zu widersprechen. Doch wenn sie ein Thema interessiert, antwortet sie ausführlich und genau, schweigt zwischendurch auch lange, um die richtige Formulierung zu finden. Das wirkt nicht wie die Allüren eines Stars, eher wie ein Mensch, der immerzu perfekt sein möchte und auch sein muss.

Frau Harfouch, Sie proben am Zürcher Pfauen Dürrenmatts «Die Physiker». Regisseur Herbert Fritsch lässt seine Schauspieler sehr körperlich arbeiten. Den Zuschauer erwartet nicht das, was 1951 zur Uraufführung auf die Bühne kam.

Corinna Harfouch: Herbert Fritsch fordert einen unendlich heraus. In der Körperlichkeit, auch in der körperlichen Überforderung kommt man dann zu Erkenntnissen, zu denen man über die Ratio oder das Alleinvor-sich-Hinspielen nicht gekommen wäre.

Der Regisseur überfordert Sie?

Harfouch: Sicher. Uns alle. So lange, bis man es dann kann. Bis dahin ist das Überforderung.

Hat er einen so hohen Anspruch?

Harfouch: Extrem. Das kommt natürlich daher, dass er selbst ein so grosser Schauspieler ist. Man kann sich nicht mal beklagen. Er fordert nichts Unmögliches. Die Proben sind absolut herrlich.

In Zürich spielen Sie sehr gegen Erwartungen an, weil Ihre Rolle schon Therese Giehse und Maria Becker gespielt haben. Stört Sie das?

Harfouch: Nein. Wie die Figur im Ganzen wird, weiss ich noch nicht. Im Moment ist es noch ein körperlich-sprachlich-technisches Puzzle. Die Bühne ist auch eine Herausforderung. Wir hatten Parcourstraining von Anfang an.

Parcourstraining? Im Theater?

Harfouch: Parcours-Kletterer, die sich linear durch die Stadt bewegen und jedes Hindernis nehmen, haben mit uns trainiert. Kraft. Ausdauer. Angstverlust, um sich etwas zuzutrauen, was man sich nie getraut hätte.

Sie müssen klettern?

Harfouch: Wir alle müssen klettern. Springen. Was heisst müssen? Wir dürfen. Klettern. Springen. Rutschen.

Sie scheinen besonders gerne herausgefordert zu werden. Stimmt das?

Harfouch: Ich kenne keinen Schauspieler, der nicht einen Regisseur mag, der ihn fordert. Alles andere ist ja vertane Zeit.

Sie spielen auch im Film «Finsterworld». Der hat am Zurich Film Festival zwei Preise gewonnen, das Goldene Auge als bester deutschsprachiger Film und den Preis der Schweizerischen Filmkritik. Was hat Sie am Drehbuch überzeugt?

Harfouch: Es ist ein Superbuch und anders als alles, was ich in den letzten Jahren gelesen habe. Es stellt auch ungewöhnliche Zusammenhänge her. Christian Kracht und Frauke Finsterwalder leben nicht in Deutschland. Deshalb haben sie diesen spannenden Blick von aussen. Es ist nicht so, dass ich mit dem ganzen Blick einverstanden bin. Überhaupt nicht. Aber der Film ist auf amüsante Weise bösartig.

Sie spielen eine reiche Ehefrau?

Harfouch: Ich habe keine Ahnung, was die arbeitet. Sie hat aber genug Geld. Sie ist mit ihrem Mann unterwegs in der Welt. Völlige Snobs. Sie geilen sich daran auf, dass alles um sie herum eklig und entsetzlich ist. Daraus ziehen sie die Energie.

Wie wählen Sie Ihre Rollen aus? Sie sind ja nicht mehr in der Position, auf Rollen warten zu müssen.

Harfouch: Was für eine Position sollte ich denn haben, als auf Rollen zu warten? Beziehungsweise sie abzulehnen oder anzunehmen.

Ich hatte gedacht, Sie könnten aus einem grossen Angebot wählen.

Harfouch: Das wäre schön. Da gibt es diese seltsame Vorstellung, dass es nur so prasselt an Angeboten. Und dass das einzige Problem darin besteht, dass man aus dem Riesenhaufen von Angeboten etwas herausfischen muss. So ist das nicht.

Aber Sie lehnen auch Rollen ab?

Harfouch: Ja, ich lehne auch Rollen ab.

Ihre Film- und Theaterfiguren wirken, als würden Sie sehr genau auswählen, was Sie spielen.

Harfouch: Aber man hat doch vorher keine Ahnung, ob man die Rolle wirklich hinkriegt oder nicht. Man bekommt eine leichte Ahnung, und auch die ist ganz und gar trügerisch, wenn man die Konstellation sieht, in der man arbeitet. Wenn man blockiert ist, weil man die nicht mag, sollte man es lieber nicht machen. Schon gar nicht auf dem Theater. Das bringt nichts. Dann ist es auch vollkommen egal, wie das Stück, wie die Rolle ist. Selbst wenn man den Regisseur kennt, ist es das nächste Mal doch anders. Man weiss gar nichts. Das ist jetzt auch nicht kokettiert. Darum macht man es ja, weil man gar nichts weiss und es nochmal herausfinden muss.

Theaterrollen kennen Sie, weil die Stücke – wie «Die Physiker» – schon oft aufgeführt wurden. Wie wählen Sie aber Filmdrehbücher aus, die völlig neu entstanden sind?

Harfouch: Das hat sehr viel damit zu tun, was man schon gemacht hat. Das ist halt das Problem mit dieser Langeweile. Ein Drehort ist ein Ort der Langeweile. Da dauert alles ewig. Man wartet ewig, dann spielt man sein kleines Stückchen, und dann ist es auch schon wieder vorbei.

Also schauen Sie vorher vor allem, wie gross Ihre Rolle ist?

Harfouch: Auch. Und ich schaue, was erzählt wird. Interessiert mich das? Ich habe manche Rollen schon zehn- oder zwanzigmal gespielt. Die strenge, verhärmte, humorlose Person, die etwas böse Frau. Was ich auch nicht mehr mag, ist die depressive Mutter, die depressiv ist, weil die Kinder aus dem Haus sind und sie jetzt wirklich gar nichts mehr mit ihrem Leben anfangen kann.

Das entspricht Ihnen nicht, oder?

Harfouch: Mehr noch: Ich beobachte es auch völlig anders. Die jungen Filmemacher wollen, dass ihre Mutter depressiv ist, weil sie weggegangen sind. So ist das aber nicht, Jungs. Jetzt sage ich: Das Soll an depressiven Müttern habe ich übererfüllt.

Ich habe nicht das Gefühl, dass Sie auf eine Rolle festgelegt sind.

Harfouch: Das freut mich sehr. Denn ich habe einen totalen Horror davor. Nicht, weil das gar nichts mit meiner Person zu tun hat. Sondern weil ich spielen will. Darum bin ich doch Schauspielerin. Ich will unterschiedliche Dinge spielen, kennenlernen. In mir natürlich auch. Das ist doch toll, vital, belebend. So will ich es haben. So wollen es alle haben.

Aber es gelingt Ihnen besser als vielen anderen.

Harfouch: Ich habe das Glück – ich habe auch etwas dafür getan –, dass ich viele Dinge machen kann: Ich drehe Filme, spiele Theater, inszeniere und mache inszenierte Lesungen. Dabei fühle ich mich unheimlich wohl. In manchen Projekten liegt der Schwerpunkt auf der Sprache, andere sind eher «körperintelligent ». Ich habe darauf geachtet, dass sich meine Aufgaben in verschiedenen Bereichen abspielen.

Ihr Spiel behält immer einen Rest Undurchdringlichkeit und bleibt frisch. Wie schaffen Sie das? Selbstdisziplin? Hohe Ansprüche?

Harfouch: Weder noch. So empfinde ich es jedenfalls. (langes Schweigen) Es ist ganz quälend, wenn es nicht funktioniert. Oder wenn es nach mehreren Aufführungen in eine falsche Richtung läuft.

Es ist nicht Selbstdisziplin, sondern Selbstschutz, um den Spass an der Arbeit nicht zu verlieren?

Harfouch: Ja, genau. Es ist das Wichtigste, das man sich diese Kostbarkeit, dass das Theater wirklich was bedeutet, erhält. Es ist so ein komischer Beruf: Du machst so viel, und es gilt immer nur das Jetzt. Ich finde das schön. Dadurch ist es einzigartig. Ein Unikat. Auf manche Projekte arbeite ich ein halbes Jahr hin und führe sie dann einmal auf. Das ist toll. Diese Zeit, die man mit einem Thema verbringen kann, das ist herrlich, das ist Leben.

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Corinna Harfouch, Star in Film, Fernsehen und Theater

Corinna Harfouch, geboren 1954, war in der DDR ein Theater- und Filmstar und wurde es wieder im vereinigten Deutschland.

Theaterrollen (Auswahl). 1983 Lady Macbeth in «Macbeth», Regie Heiner Müller. Mehrere Arbeiten mit Frank Castorf, z.B. als General Harras in «Des Teufels General», mit Jürgen Gosch, u. a. «Wer hat Angst vor Virginia Woolf?», «Sommernachtstraum », «Die Möwe».

Filme, u. a. «Giulias Verschwinden », «Was bleibt», «Der Untergang », «This is Love, «Whiskey mit Wodka», «Im Winter ein Jahr», «Das Parfum».

Auszeichnungen: u. a. 1988 Kritikerpreis für «Die Schauspielerin», 1989 für «Treffen in Travers», 1996 Adolf Grimme Preis für «Gefährliche Freundin», 1997 Gertrud- Eysoldt-Ring und Schauspielerin des Jahres, 2001 Deutscher Fernsehpreis für «Vera Brühne», 2003 für «Bibi Blocksberg», 2007 Goldene Kamera für «Wut».

Auftritte: Als Dr. Zahnd in Dürrenmatts «Die Physiker» ab 19. 10., Pfauen Zürich. «Finsterworld» von Christian Kracht und Frauke Finsterwalder, wenn der Film einen Schweizer Verleih findet. 23.11., 20 Uhr, Theater Rigiblick, Zürich: Corinna Harfouch liest «Elektra» von Hugo von Hofmannsthal. (red.)