Ostschweiz am Sonntag, Reportage, 21. April 2013
Die Ukraine ist eines der korruptesten Länder der Welt. Bezahlen müssen dafür die Ärmsten: Besuch bei Menschen, die verzweifelt versuchen zu überleben. Und Hilfe aus dem Thurgau erhalten.
lina Abramenko hat ihren Ort zum Träumen gefunden. Hier will sie bleiben, solange es irgendwie geht. Boryslav heisst der Flecken Erde – und wer wissen will, warum sich ein 16jähriges Mädchen dort seit fünf Jahren so wohl fühlt wie noch nie im Leben, der darf sich nicht von Äusserlichkeiten abschrecken lassen.
Er muss den alten, rostigen Ölförderkran vor dem Haus missachten, denn der ist ein Überbleibsel alter Tage und längst zerstobener Hoffnungen. Er darf sich auch nicht vom Schnee beirren lassen, der noch immer in braunen, matschigen Haufen unter den Bäumen liegt. Er muss über Regenrinnsale springen, die den Berg hinunterfliessen, und sich im tristen Übergang zwischen Winter und Frühling die dicken, kahlen Bäume mit grünen Blättern vorstellen.
Boryslav heisst Alinas Traumort, gelegen 70 Kilometer südwestlich von Lemberg in den äussersten Ausläufern der Karpaten in der Westukraine. Hier sehen selbst Sehnsuchtsorte ein bisschen anders aus als bei uns. In der alten Fabrikantenvilla und in mehreren Häusern auf dem Gelände leben und lernen 420 mehrfach behinderte Kinder zwischen sechs und sechzehn Jahren, 325 davon im Internat. Auch Alina schläft im Internat, denn ihre Familie lebt in Luhánsk, und das ist 1120 Kilometer entfernt, am anderen Ende des Landes, nicht an der Grenze zu Polen, sondern an der zu Russland. Viermal im Jahr kommen die Eltern und die Schwester Alina besuchen – und staunen über die Lebenslust, mit der das behinderte Mädchen hier zu Werke geht.
Sängerin und Chefredaktorin
Sie singt, im Chor, im Duett, auch Solo, wenn es gefordert ist. Sie ist stellvertretende Chefredaktorin der «Nascha Gazeta» (Unsere Zeitung); die acht Seiten der aktuellen Ausgabe hängen farbenprächtig im Schulflur. «Hier bin ich nichts Besonderes », sagt Alina – und das macht sie so glücklich. Denn vorher war sie in einer regulären Schule – und als spastisch Gelähmte ständig im Nachteil. In Boryslav ist sie eine von vielen, denn auch ihre Mitschüler sind behindert.
Wer das Schulhaus betritt, der kann Alinas Träume schon viel besser nachvollziehen. Vor allem, wenn er weiss, wie es mal ausgesehen hat. Die Betten in den Schlafsälen stehen immer noch dicht an dicht, aber die Matratzen sind neu und bequem, jedes Kind hat ein kleines Nachtschränkchen, in dem es persönliche Dinge verstauen kann. «Als wir unsere Arbeit begannen, fanden wir verfaulte und verpisste Matratzen vor», sagt Pavlo Titko, Koordinator der Malteser- Hilfsprojekte in der Ukraine, «wir konnten sie nur wegwerfen.»
Seit 20 Jahren versucht der Malteser-Hilfsdienst, Kinderheime und Schulen im Land zu freundlichen, sauberen Orten zu machen. Dabei helfen nationale und internationale Spender. Darunter auch die Rotaryclubs Kreuzlingen und Kreuzlingen-Konstanz, die in zehn Jahren über 500 000 Franken für verschiedene soziale Projekte in der Region Lemberg gespendet haben. Fünf Mitglieder waren daher kürzlich fünf Tage in der Ukraine unterwegs, um die Projekte zu begutachten und zu sehen, wie das Geld eingesetzt wird.
Sie konnten sehen, dass in Boryslav einfache, medizinische Geräte angeschafft und eine Heizung eingebaut wurden – Titko: «Dafür war vorher kein Geld da.» Auch Fenster, Toiletten und Duschen wurden saniert, «die stammten noch aus der k. u. k. Zeit». Eine kleine Turnhalle und ein Bewegungsraum wurden eingerichtet, die Küche mit modernen Geräten ausgestattet, neun einfache Waschmaschinen gekauft, das Gebäude peu à peu saniert. Noch immer ist alles eine Baustelle; der nächste Bauabschnitt soll vor den orthodoxen Osterfeiern am 5. Mai beendet sein.
Der Geruch von Ölfarbe hängt noch in der Luft, weil die Physiotherapeuten die Wände in der Aula streichen. Die Hilfe von staatlicher Seite ist quasi nicht vorhanden, also müssen alle mithelfen. Von einem westlichen Standards genügenden Behindertenheim kann noch längst nicht gesprochen werden – kein Aufzug weit und breit, nur einfachste, mit Vorhängen getrennte Behandlungsliegen. Trotzdem sagt Natalja Tyschenko, die Leiterin des Heims, voller Erleichterung: «Endlich können wir uns jetzt um die Kinder kümmern.»
Gymnastik gegen die Schmerzen
Das spürt auch Alina Abramenko. Sie hat heute noch vor dem Frühstück Gymnastik gemacht. Das heisst bei ihr vor allem: Übungen auf der Matte. Denn Schäden an der Wirbelsäule verursachen Lähmungen, die das Mädchen nur stark schwankend gehen lassen und sie immer schmerzhafter quälen würden, würde sie nicht behandelt. Die Rechnung ist simpel: «Wer im Rollstuhl kommt, verlässt das Heim mit Krücken, und wer mit Krücken kommt, braucht sie nicht mehr, wenn er geht», sagt Pavlo Titko.
Tausende Kilometer hat der 43jährige Titko auf der Strasse verbracht, um die 40 Heime zu besuchen, denen die Malteser helfen. Nach diesem Winter ist das besonders mühsam, denn auf den Strassen klafft tiefes Loch neben tiefem Loch; Fahrten können doppelt so lange dauern wie gewöhnlich – Kopfschmerzen machendes und Stossdämpfer strapazierendes Gehüpfe im Auto inklusive. Das wird sich so bald nicht ändern, denn der Staat ist pleite und die Oligarchen und Politiker kümmern sich nur um die eigenen Pfründe. Und weil die Grenzen zwischen beiden Gruppen fliessend sind, gelingt das noch immer hervorragend – zum Missfallen der EU.
Jahrzehnte der Misswirtschaft
Viele entscheidende Politiker waren vorher Oligarchen und Geschäftsleute und werden es hinterher wieder sein, auch Oppositionspolitikerin Julia Timoschenko, die aus fadenscheinigen Gründen von einer gelenkten Justiz verurteilt wurde und trotz grösster gesundheitlicher Probleme im Gefängnis sitzt. Nach Jahrzehnten der Miss- und Vetternwirtschaft und einer Fast-Pleite im Krisenjahr 2009 suchen die Politiker aktuell verzweifelt nach weiteren Einkommensmöglichkeiten. Das Wohl ihrer Landsleute ist den meisten egal – im günstigen Fall.
Am nächsten Tag fahren die Rotarier zu ihrem Projekt nach Strilky und hören dort, was das bedeutet: Die Schule hier, ein Bau aus den 50er-Jahren, wurde vor wenigen Monaten isoliert und frisch gestrichen. Wohl, so heisst es, zum Mehrfachen der eigentlichen Kosten. Schon ziehen sich Schlieren von der Regenrinne die Hauswand hinab. Schlimmer noch: Die Fenster wurden erneuert – jetzt lassen sich zwei Drittel der Fenster in den Schlafsälen nicht mehr öffnen. Der Geruch dort ist entsprechend.
Leuchtturm in den Karpaten
Als die Schulleiterin publik macht, dass die Arbeiten nicht öffentlich ausgeschrieben worden waren, verliert sie ihren Posten. Den Thurgauer Rotariern war die Dame vom letzten Besuch noch als tatkräftig und energisch in Erinnerung. Das zeigt sich auch im guten Ruf der Schule. Die ist trotz ihrer Lage am Rande der Karpaten, einem der ärmsten Gebiete des Landes, in dem es faktisch keine Arbeit gibt, zu einem Leuchtturm geworden: 84 Prozent der Abgänger werden an einer Hochschule zugelassen – ein Wert weit über dem Durchschnitt. Ein Grund dafür sind die Schreinerwerkstatt, eine Nähstube und spezielle Sportklassen, die den Schülern eine Spezialisierung ermöglichen.
Aber in einem Land, in dem einige wenige versuchen, auf Kosten aller anderen reich zu bleiben, ist das nicht gewünscht. Und so mussten kürzlich acht Waisen auf die Dorfschule wechseln. Der Staat wollte ihnen nicht mehr Unterstützung für die Eltern und die Kosten für das Internat zahlen. Ein Rückschritt für die Helfer, sollte doch die Schule auch Hoffnung in die entlegene und benachteiligte Region bringen.
Korruption hat alle Teile der Gesellschaft erfasst
Die Arbeit der Helfer wird zusätzlich erschwert von dem Wunsch ihrer Geldgeber, Spenden nicht in Korruption fliessen zu lassen. Das ist verständlich, aber leichter gesagt als getan, wenn die Korruption wie in der Ukraine alle Teile der Gesellschaft erfasst hat. Wie hoch ihr Gehalt ist, will die Schulleiterin in Boryslav erst nicht sagen. Dann tut sie es doch: «120 Euro im Monat.» Sie lacht laut und fügt dann hinzu: «Davon allein kann man nicht leben.»
Die Zahl ist schlicht absurd. Das zeigt zum Beispiel ein Blick auf die Kosten einer Geburt im Krankenhaus von Lemberg: Allein die Ärztin erhält rund 900 Euro in bar. Dazu kommen Zahlungen an die Hebamme, das Pflegepersonal, die Putzfrau. Zudem zahlt jeder Patient alle Medikamente selbst, denn die sind per Verfassung im festgeschriebenen «freien Zugang zur Gesundheitsfürsorge » nicht inbegriffen.
Wer nicht kassiert, fällt durchs Raster
Wer kein Extrageld kassiert, fällt in diesem System durchs Raster. Und so kennen zum Beispiel alle Eltern die fünf Termine im Jahr, an denen sie den Lehrern Briefumschläge zustecken müssen. Wer in den Strassen Lembergs die vielen grossen Autos sieht, weiss: Es gibt Wege, an Geld zu kommen. «Die Ukraine ist eines der korruptesten Länder der Welt», sagt Witali Klitschko. Der zweifache Boxweltmeister ist Spitzenkandidat der Partei «Ukrainische demokratische Allianz für Reformen », die sich mit Udar abkürzt, was sich passenderweise als «Schlag» übersetzen lässt. Klitschko kämpft gegen das System. Ob er es auch noch tun wird, wenn er an die Macht kommen sollte, wird sich weisen. Die Gewinner der Orangen Revolution 2004 hatten es auch versprochen. Gelungen ist es ihnen nicht.
Die Armen helfen sich selbst
Vorerst sind die Armen gezwungen, sich selbst zu helfen. Natalya Taraltschuk und Ostap Stadnjk haben die Organisation «Opened Hearts» gegründet. Damit finanzieren die beiden Rollstuhlfahrer monatliche Treffen und Sommerlager im paralympischen Zentrum am Schwarzen Meer: «Der einzige Ort in der Ukraine, der wirklich behindertengerecht eingerichtet ist», sagt Natalya. Sie selbst hat Journalismus im Fernstudium studiert. Während der Prüfungen hat ihr Vater frei genommen, um sie im Wohnhaus die Treppen herunter und in der Universität die Stufen herauf zu tragen. Die Zeiten, in denen Behinderte ihr Leben in den Wohnungen verbringen mussten, sind hier noch nicht lange her. Entsetzlich mühsam muss es sein, sich im Rollstuhl auf diesen kaputten Strassen über die hohen Bordsteinkanten zu bewegen in einer Stadt, in der es zwar Hügel und hohe Häuser, aber kaum Aufzüge gibt.
Auch Alina Abramenko weiss das. Seit sie im Internat in Boryslav ist, sagt sie: «Ich muss viel arbeiten, dann ist alles möglich.» Zwei Jahre geht sie noch in Boryslav zur Schule, dann will sie Psychologie studieren. Aber eigentlich, «habe ich es gar nicht eilig, hier wegzukommen». Warum auch sollte sie ihren Sehnsuchtsort verlassen?