Magazin der Hochschule Luzern, Titelgeschichte, Ausgabe 3/2017
Viele bekannte Schweizer Familienunternehmen können sich seit Jahrhunderten auf dem Markt behaupten. Forscherinnen der Hochschule Luzern haben untersucht, wie die Familienunternehmen es schaffen, so lange im Spannungsfeld zwischen Innovation und Tradition zu überleben.
Schweizer Familienunternehmen beschäftigen 60 Prozent aller Arbeitskräfte und erwirtschaften zwei Drittel des Bruttoinlandproduktes; auch weltweit sind Familienunternehmen die Pfeiler der Wirtschaft. Viele bekannte Traditionsunternehmen wie Victorinox, Kambly oder Bernina werden von Generation zu Generation weitergegeben und sind auch Jahrhunderte nach ihrer Gründung noch immer in Familienbesitz.
Im Handelsunternehmen Pestalozzi etwa ist bereits die neunte Generation am Ruder: 1763 gründete Johann Heinrich Wiser nahe der Kirche St. Peter in Zürich einen Eisenhandel; 1850 tritt mit einem Schwiegersohn der erste Pestalozzi ins Unternehmen ein; 1955 zieht das Unternehmen nach Dietikon; und 2013 wird zum 250-Jahr-Jubiläum ein rauschendes Fest gefeiert. Wie schafft es eine Familie, so lange ein Unternehmen zu führen, die geeigneten Nachfolger zu finden sowie den richtigen Riecher für den Markt zu haben, dass es sich vom kleinen Eisenhandel zum spezialisierten Unternehmen in Sachen Haus- und Stahltechnik, Logistik und Gebäudehülle wandelte?
Diese Fragen haben Claudia Astrachan und Sylvie Scherrer vom Institut für Betriebs- und Regionalökonomie IBR der Hochschule Luzern untersucht. Ihr Bericht «Langlebige Unternehmerfamilien – überlebensfähige Familienunternehmen. Worauf über Generationen erfolgreiche Unternehmerfamilien achten» beinhaltet sehr konkrete Ergebnisse sowie neun Handlungsempfehlungen, die von «Stärken Sie den Familienzusammenhalt» über «Keine Angst vor Konflikten» bis hin zu «Die Familie hat eine Bringschuld» reichen. Die Studie, für die sie 13 erfolgreiche Schweizer Unternehmen befragten, ist wissenschaftlich abgestützt. Doch den beiden Forscherinnen war es wichtig, dass der Bericht möglichst konkrete Anregungen vermittelt.
«Am meisten überrascht hat mich, dass sich die Familien in dem spannenden Zusammenspiel von Bewahren und Erneuern befinden», sagt Sylvie Scherrer. Obwohl funktionierende Familienunternehmen ein sehr starkes Bewusstsein für die Tradition haben und diese sorgfältig pflegen, sei es kein Widerspruch, risikofreudig zu sein und sich auf Neues einzulassen. So sagte einer der Interviewten: «Stabilität erreiche ich nur, indem ich mich immer wieder verändere, immer wieder einen Ausweg aus der Situation finde. Wir sind jetzt 100 Jahre alt – nur weil wir jetzt gerade etwas gut machen, heisst das nicht, dass dies auch in drei, vier Jahren noch gut genug ist.»
Langlebige Familienunternehmen beziehen sich zwar immer wieder auf ihre Traditionen, ihre Geschichte bis hin zum Gründer, doch ist gerade der ein Vorbild für Innovation, Mut und Risikofreude. So hat das heutige Geschäftsfeld der Firmen oft nur noch wenig mit dem der Gründer zu tun: Etwa der Grossbetrieb der Kambly AG mit der Bäckerei von 1906, die Trisa AG mit der Bürstenfabrik von 1887 oder Victorinox mit der Messerschmiede von 1884.
Die lernende Familie
Wie aber schafft man es, in einer Familie zukunftsorientiert zu bleiben? Ihre Ergebnisse fassen die Forscherinnen in drei Kapiteln zusammen. Das erste ist «Die lernende Familie»: «Diese Familie meistert den Balanceakt zwischen Stabilität und Veränderung. Sie ehrt zwar die Vergangenheit, scheut sich aber nicht davor, zum Wohle des Unternehmens und der Familie mit Traditionen zu brechen». Familienunternehmen haben bei Veränderungen den Vorteil, dass sie sich über die Jahre einen festen Kunden- und Lieferantenstamm aufbauen konnten und zu diesem sehr enge Beziehungen pflegen: «In unserer Branche ist der nahe Kontakt zu den Kunden entscheidend», schreibt Geschäftsführer Matthias Pestalozzi in der 250-Jahr-Jubiläumsschrift der Pestalozzi-Gruppe. «Gerade unter diesem Gesichtspunkt haben grosse internationale Konzerne keine grossen Vorteile – oftmals sogar eher Nachteile.»
Die Familienunternehmen sind zudem sehr stark mit ihrer Region verwurzelt – zum Nutzen beider Seiten. Das zeigt ein Blick in die Geschichte von Victorinox: Die Messerschmiede wurde 1884 nicht in erster Linie gegründet, um möglichst viele Sackmesser zu verkaufen. Vielmehr gründete Karl Elsener seinen Handwerksbetrieb, um der starken Abwanderung aus dem Schwyzer Talkessel entgegenzuwirken.
Konsequenterweise entschied sich im Jahr 2000 die Familie Elsener einvernehmlich dafür, Unternehmen und Familie zu trennen. Sämtliche Familienmitglieder waren sich einig, dass es für das langfristige Überleben des Unternehmens das Beste sei, die Aktien in zwei Stiftungen zu überführen. Die Unternehmensstiftung, die mit 90 Prozent der Aktien finanziert wird, soll ein nachhaltiges Wachstum ermöglichen und langfristig Arbeitsplätze sichern; die gemeinnützige Stiftung mit zehn Prozent der Aktien unterstützt wohltätige Projekte.
Die geeinte Familie
Probleme können etwa entstehen, wenn einer investieren möchte, die anderen ihm aber nicht folgen mögen. Hier kommt «Die geeinte Familie» (Kapitel 2) ins Spiel: «Die Familienmitglieder verpflichten sich auf ein gemeinsames, übergeordnetes Ziel und akzeptieren, dass ihre individuellen Bedürfnisse dem nachhaltigen Gedeihen des Unternehmens unterzuordnen sind», heisst es in der Studie.
So kann ein Familienunternehmen, wenn sich die Entscheider einig sind, einen weiteren Vorteil ausspielen: Viele Familienunternehmen legen Wert auf eine hohe Eigenkapitalquote; sie können schnell investieren, ohne Fremdkapital aufzunehmen und sich von Geldgebern abhängig zu machen. Der langfristige Horizont erlaubt Familienunternehmen, mehrjährige Forschungs- und Entwicklungsprojekte anzugehen, die Publikumsgesellschaften vermeiden würden.
«Wir waren nie – im Gegensatz zu weltweit tätigen Firmen mit grossen Konkurrenten – zu einem Wachstum gezwungen, das den Einsatz von ausserfamiliärem Kapital nötig gemacht hätte», schreibt Matthias Pestalozzi. Auch Oscar A. Kambly sagt: «Mein Planungshorizont ist mein ganzes Leben und das meiner Nachfolger, nicht der Quartalsbericht.» Seine Ziele müssten auch für seine Kinder und Kindeskinder noch gute Ziele sein.
Nicht alle Unternehmen formulieren das Anliegen, dass individuelle Bedürfnisse dem Wohl des Unternehmens unterzuordnen seien, so deutlich wie Kambly. Doch viele berufen sich auf moralische Kriterien. So zitiert die Trisa AG auf der Website unter dem Punkt «Mission und Grundhaltung» Ernst Pfenniger, den Vater des heutigen CEO Adrian Pfenniger: «Persönlich glaube ich an Gott und das Gute im Menschen! Daraus folgere ich, dass wir hier auf dieser Welt eine Sendung zu erfüllen haben. Was ist die Aufgabe des Unternehmers? Aus meiner Sicht soll er Arbeit schaffen und Freude an dieser Arbeit vermitteln. Wer mit Freude etwas tut, der leistet mehr. Davon sollen alle profitieren.»
Ernst Pfenniger hat diese Werte in der Trisa-Eigentümerstruktur verewigt: Jeder Mitarbeitende bekommt bei Firmeneintritt eine Aktie; die gesamte Belegschaft hält rund 30 Prozent der Aktien, 70 Prozent verbleiben in Familienbesitz. Doch bei Entscheidungen haben beide Parteien 50 Prozent der Stimmen. «Ich bin überzeugt, dass das heute einer unserer wesentlichen Erfolgsfaktoren ist», sagt sein Sohn Adrian Pfenniger im Interview.
Die professionelle Familie
Doch wie stellt man sicher, dass sich die Familie nicht zerstreitet oder jedes Mitglied eigenen Ambitionen nachgeht und die Familie das Unternehmen an die Wand fährt? Im Kapitel «Die professionelle Familie» gibt die Studie konkrete Empfehlungen, wie sich die Eigentümerfamilie selbst managen soll.
Dazu gehört zum einen die Förderung guter Mitarbeiter, aber auch, rechtzeitig einen geeigneten und gut ausgebildeten Nachfolger aufzubauen. «Wir wollen von unseren Mitarbeitenden und auf dem Arbeitsmarkt als professionell wahrgenommen werden», sagt Carl Elsener von Victorinox AG. «Wenn man einem Familienmitglied einen Posten gibt, muss er oder sie mindestens gleich gut sein wie der externe Kandidat – eher fünf Prozent besser, damit das unverdächtig ist.»
Die beiden Forscherinnen diskutieren einige Steuerungsinstrumente, um die – viele Generationen und Familienzweige umfassende – Familie professionell zu führen: Eine Familienstrategie und eine -verfassung, die gemeinsame Werte festschreibt; einen Familientag, in dem auch weit entfernt voneinander lebende Familienmitglieder sich regelmässig treffen, um später einmal gemeinsam das Unternehmen zu führen; einen Familienrat, der sich mehrfach jährlich trifft, um vor allem Mitglieder, die nicht am operativen Geschäft beteiligt sind, informieren zu können.
«Eine professionelle Familie nutzt vielfältige Instrumente, um die Schnittstelle zwischen Familienverbund und Unternehmen effektiv zu handhaben, den Kommunikationsfluss innerhalb der Familie sowie zwischen Familie und Unternehmen zu steuern und mit Konflikten umzugehen», schreiben die Forscherinnen.
Doch ist Claudia Astrachan überzeugt: «Man kann eine Nachfolge noch so genau planen und so viele Verträge schreiben und Regeln definieren wie man will – viel wichtiger ist es, sicherzustellen, dass die Familie geeint ist und gemeinsam etwas erreichen will. Wenn eine Wertebasis und eine Vision fehlen, die alle begeistern, dann wird es schwierig.»
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Forschung und Forum
Jährlich veranstaltet das Institut für Betriebs- und Regionalökonomie IBR ein Forum für Familienunternehmen. Das nächste findet am 1. Februar 2018 in Luzern zum Thema «Sind Sie zukunftsfähig? Familien und Unternehmen, die mit der Zeit gehen» statt. Der Forschungsbericht ist publiziert unter: blog.hslu.ch/familienunternehmen
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INTERVIEW
«Die Beteiligung der Mitarbeitenden ist unser Erfolgsfaktor»
Adrian Pfenniger führt in vierter Generation mit seinem Bruder Philipp zusammen die Trisa AG. Ein Gespräch über Werte, Mitsprache und die Abneigung gegen Friede, Freude, Eierkuchen.
Adrian Pfenniger, Sie führen die Trisa AG in der vierten Generation. Sehen Sie sich als Bewahrer, als Verwalter oder als Gestalter?
Wir sehen uns als aktive Gestalter, die mit Zukunftsglauben ans Werk gehen. Unsere Vorfahren gründeten einen Handwerksbetrieb; mittlerweile sind wir eine Gruppe von Hightech-Unternehmen. Wir diversifizieren in komplett neue Gebiete und verlassen andere wieder. Dieser Pioniergeist der Gründerzeit herrscht bei uns nach wie vor.
Was verbindet Sie sonst noch mit dem Handwerksbetrieb von 1887?
Bei den Produktionsmethoden ist kein Stein auf dem anderen geblieben. Wir entwickeln pausenlos neue Produkte und Verfahren. Hingegen haben Grundwerte wie Vertrauen, Offenheit, Führen durch Vorbild, die Mitsprache der Mitarbeitenden, die Kommunikation und die Freude an der Arbeit Jahrhunderte überdauert. In einem Umfeld, das sich ständig verändert, gibt das Sicherheit und innere Stabilität. Dieser Trisa-Spirit ist schriftlich verankert, er ist unsere Kultur, ein bisschen die Persönlichkeit des Unternehmens. Die Formulierung ist jedoch nur eine Seite, viel entscheidender ist, wie das täglich gelebt wird.
Das Vertrauen in die Mitarbeitenden hat Ihr Vater Ernst Pfenniger in der Organisationsstruktur verankert: Jeder bekommt eine Aktie am Unternehmen, die Belegschaft hält gegen 30 Prozent der Aktien, die Familie Pfenniger 70 Prozent. Das Mitspracherecht ist aber paritätisch, 50:50. Haben Sie das je bereut?
Nein. Wir führen das bewusst weiter, auch mit einer Erfolgsbeteiligung für alle Mitarbeitenden. Das ist heute unser wichtigster Erfolgsfaktor. Es braucht dieses Klima des Vertrauens und der Mitsprache. Die Arbeit kann nichts ohne das Kapital machen und das Kapital nichts ohne die Arbeit. So sind wir eigentlich eine Interessengemeinschaft.
Sie sind als CEO für Marketing, Verkauf und Entwicklung zuständig, Ihr Bruder Philipp für Produktion, Logistik und Technik. Funktioniert die Zusammenarbeit reibungslos?
Nein. Und das soll sie auch nicht. Verschiedene Meinungen sind wichtig – nur so entstehen gute Ideen, neue Sachen. Auch in unserem Management-Team und in der Familie wissen wir, wie man damit umgeht, wenn man anderer Meinung ist: Eine gute Gesprächs- und Konfliktkultur ist entscheidend. Und die ist weit weg von Friede, Freude, Eierkuchen.
Die fünfte Generation steht mit sieben Buben bereit. Wie führen Sie diese an das Unternehmen heran?
Selbstverständlich sind alle Türen offen, wir informieren, sie können mitarbeiten und Praktika machen. Es ist durchaus möglich, dass dereinst jemand die Familientradition weiterführt. Wir wollen jedoch nicht allzu stark motivieren. Mein Bruder und ich hatten die Freiheit, unternehmerisch tätig zu sein, auch die Generation meines Vaters hatte sie. Druck ist kontraproduktiv und ein Bärendienst für die involvierten Personen und das Unternehmen.
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Trisa Gruppe
Die Trisa Gruppe ist in den Bereichen Mundpflege, Schönheitspflege und Haushalt tätig. Sie beschäftigt 1’100 Mitarbeitende und erzielt einen Umsatz von 220 Mio. Franken. Sie vertreibt ihre Produkte in über 80 Ländern. www.trisa.ch